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Sozialrecht nach landesrechtlichen Vorschriften


Metadaten

Gericht VG Cottbus 3. Kammer Entscheidungsdatum 09.05.2014
Aktenzeichen VG 3 K 267/12 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 48 Abs 1 SGB 10, § 50 Abs 1 SGB 10, § 5 Abs 1 PflGG BB

Tenor

Der Aufhebungs- und der Rückforderungsbescheid des Beklagten jeweils vom 22. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2013 wird hinsichtlich des der Klägerin im Zeitraum von März 2006 bis März 2011 gewährten Landespflegegeldes aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens, für das Gerichtskosten nicht erhoben werden.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem Beklagten bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abzuwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Klägerin wendet sich gegen die Rückforderung ihr im Zeitraum von März 2006 bis März 2011 gewährten Landespflegegeldes für blinde Menschen.

Die am 12. Juni 1910 geborene Klägerin erhielt von dem Beklagten seit Oktober 1997 Leistungen nach dem Landespflegegeldgesetz (LPflGG) in Form von Blindengeld. In seinem Bewilligungsbescheid vom 28. Oktober 1997 bat der Beklagte die Klägerin, ihm mitzuteilen, wenn sie bei ihrer Pflegekasse im Rahmen der Pflegeversicherung ebenfalls einen Antrag auf Pflegegeld gestellt habe, und wies darauf hin, dass diese gleichartigen Leistungen auf das Landespflegegeld angerechnet würden. Mit Änderungsbescheid vom 10. April 2003 wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass sie verpflichtet sei, jede Änderung von Tatsachen, die für die Hilfegewährung maßgebend sind, insbesondere Aufenthaltsverhältnisse sowie die Gewährung gleichartiger Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften, unaufgefordert mitzuteilen.

Zuletzt setzte der Beklagte das Landespflegegeld mit Bescheid vom 23. Juni 2003 neu fest, woraufhin die Klägerin ab Mai 2003 fortlaufend Blindengeld in Höhe von monatlich 266 Euro erhielt.

Mit Schreiben vom 15. März 2011 wies der Beklagte die Klägerin darauf hin, dass diese bislang nicht mitgeteilt habe, ob sie anzurechnendes Pflegegeld der Pflegekasse erhalte. Hieraufhin teilte der Sohn der Klägerin am 17. März 2011 telephonisch mit, dass seine Mutter seit Februar 2006 Leistungen der Pflegestufe I in Höhe von zunächst 380 Euro und derzeit 420 Euro monatlich erhalte.

Mit Bescheid vom 22. März 2011 stellte der Beklagte daraufhin unter Aufhebung der entsprechenden Bewilligungsbescheide die Gewährung des Landespflegegeldes zum 31. März 2011 ein. Für den Zeitraum von März 2006 bis März 2011 forderte er mit Bescheid vom selben Tage Leistungen in Höhe von insgesamt 16.226 Euro zurück. Zur Begründung verwies er darauf, dass die Leistungen der Pflegekasse auf das Landespflegegeld anzurechnen und dass die demgemäß überzahlten Leistungen zurückzufordern seien. Die Klägerin sei ihrer Mitwirkungspflicht nicht nachgekommen, nach der sie den Erhalt des Pflegegeldes hätte mitteilen müssen.

Am 12. April 2011 erhob die Klägerin, vertreten durch ihre mit Urkunde vom 21. März 2007 bevollmächtigten Söhne Hartmut und Günter A., Widerspruch gegen die – so wörtlich – „in Ihrem Schreiben vom 22. März 2011 zuvor näher bezeichnete Rückforderung des Landespflegegeldes“. Zur Begründung trug sie vor, dass sie bei der mit Hilfe ihrer Söhne erfolgten Beantragung des Pflegegeldes bei der Pflegekasse im Januar 2006 wahrheitsgemäß angegeben habe, dass sie Blindengeld nach dem Landespflegegeldgesetz erhalte. Ein Hinweis der Pflegekasse, dass sich die Bewilligung des Pflegegeldes auf den Anspruch auf Blindengeld auswirken könne, sei nicht erfolgt. Da sie zu diesem Zeitpunkt 96 Jahre alt gewesen sei, sei zu prüfen, inwieweit ihr zugemutet werden könne, etwaige Voraussetzungen für die Bewilligung des Blindengeldes noch zu kennen. Ihren Söhnen sei die Zahlung des Blindengeldes zwar aufgrund der entsprechenden Kontobewegungen bekannt gewesen, nicht aber der Bewilligungsbescheid. Vielmehr habe sie zu diesem Zeitpunkt ihre Geschäftsangelegenheiten noch selbständig erledigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 5. September 2011, der Klägerin zugestellt am 8. September 2011, wies der Beklagte den Widerspruch zurück. Zur Begründung verweis er im Wesentlichen darauf, dass die Klägerin zwar gegen die Rückforderung, nicht aber gegen die Aufhebung der Bewilligungsbescheide Widerspruch erhoben habe. Da der entsprechende Bescheid folglich bereits bestandskräftig sei, sei sie zur Rückzahlung verpflichtet.

Am 20. September 2011 hat die Klägerin daraufhin zunächst beim Sozialgericht Cottbus Klage erhoben. Dieses hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 5. Dezember 2011 an das zuständige Verwaltungsgericht Cottbus verwiesen.

Zur Begründung ihrer Klage hat die Klägerin zunächst darauf verwiesen, dass ihr Widerspruch auch gegen den Aufhebungsbescheid gerichtet gewesen sei.

Mit Bescheid vom 8. April 2013 hat der Beklagte den Widerspruchsbescheid vom 5. September 2011 auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichtes hin aufgehoben und eine Neubescheidung angekündigt. Mit Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2013 hat der Beklagte sodann den – nunmehr als sowohl gegen den Aufhebungs- als auch gegen den Rückforderungsbescheid gerichtet gewerteten - Widerspruch der Klägerin zurück gewiesen. Er trägt vor, dass die Klägerin wiederholt auf ihre Verpflichtung zur Mitteilung von maßgeblichen Änderungen hingewiesen worden sei und dass er sich die Rückforderung der gewährten Leistungen für den Fall vorbehalten habe, dass die Bewilligungsvoraussetzungen nicht mehr vorlägen. Dies sei zuletzt mit Bescheid vom 23. Juni 2003 erfolgt, der im November 2003 auf entsprechende Nachfrage eines der Söhne der Klägerin diesem nochmals übersandt worden sei. Weder die Klägerin noch deren seit März 2007 umfänglich bevollmächtigten Söhne könnten sich auf eine Unwissenheit berufen. Durch die versäumte Mitteilung sei das Blindengeld im benannten Zeitraum in voller Höhe zu Unrecht gewährt worden. Die Aufhebung der Bewilligung sei mit Wirkung vom Zeitpunkt der Veränderung der Verhältnisse erfolgt, da die Klägerin von da ab Einkommen mit Auswirkung auf den Leistungsanspruch erzielt habe und zudem ihrer Mitteilungspflicht hierüber zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen sei.

Die Klägerin ist nunmehr der Auffassung, dass eine isolierte Aufhebung des Widerspruchsbescheides vom 5. September 2011 mangels Vorliegen der Voraussetzungen des § 79 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht möglich gewesen sei. Andernfalls hätte es der Beklagte jederzeit in der Hand, das Widerspruchsverfahren erneut aufzunehmen. Die Rückforderung mit Wirkung für die Vergangenheit sei rechtswidrig.

Die Klägerin beantragt – sinngemäß -,

den Aufhebungs- und den Rückforderungsbescheid des Beklagten jeweils vom 22. März 2011 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 30. Mai 2013 hinsichtlich des ihr im Zeitraum von März 2006 bis März 2011gewährten Landespflegegeldes aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt und vertieft seine bisherige Begründung.

Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorganges (1 Heft) ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Kammer kann über die Klage gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung durch die Einzelrichterin entscheiden, nachdem sich die Klägerin und der Beklagte hiermit einverstanden erklärt haben.

Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Bescheide sind, soweit sie den im Streit stehenden Zeitraum betreffen, rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Die Aufhebung und Rückforderung des der Klägerin gewährten Landespflegegeldes für die Vergangenheit unterliegt durchgreifenden rechtlichen Bedenken.

1. Rechtsgrundlage der hier verfügten Aufhebung der Bewilligungsbescheide vom 28. Oktober 1997 und vom 23. Juni 2003 ist § 48 Abs. 1 des Sozialgesetzbuches (SGB) X. Hiernach ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die beim Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben (Satz 1). Der Verwaltungsakt soll mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit sie zugunsten des Betroffenen erfolgt oder dieser einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen nicht nachgekommen ist, nach Antragstellung oder Erlass des Verwaltungsaktes Einkommen oder Vermögen erzielt hat oder wusste oder bei besonderer Sorgfaltspflichtverletzung nicht wusste, dass sein Anspruch ruht oder ganz oder teilweise weggefallen ist (Satz 2).

Hier erhielt die Klägerin seit Februar 2006 Leistungen der Pflegestufe I in Höhe von 380,00 Euro bzw. 420,00 Euro, die gemäß § 5 Abs. 1 LPflGG auf das Landespflegegeld anzurechnen sind. Im Hinblick hierauf erfolgte die von dem Beklagten mit Bescheid vom 22. März 2011 verfügte Einstellung der Zahlung des Landespflegegeldes zum 31. März 2011 rechtmäßig.

Die Aufhebung der Bewilligungsbescheide auch für den zurückliegenden Zeitraum war dagegen rechtswidrig.

a) Zwar hat der Gesetzgeber hat in den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X eine Aufhebung des Verwaltungsaktes regelmäßig bereits ab Änderung der Verhältnisse bestimmt. Soweit der Beklagte in den angefochtenen Bescheiden darauf abstellt, dass vorliegend die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X gegeben seien, vermag dies jedoch nicht zu überzeugen.

Gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB X ist eine Aufhebung ab Änderung der Verhältnisse regelmäßig dann vorzunehmen, wenn der Betroffene einer durch Rechtsvorschrift vorgeschriebenen Pflicht zur Mitteilung wesentlicher für ihn nachteiliger Änderungen der Verhältnisse vorsätzlich oder grob fahrlässig nicht nachgekommen ist. Daran fehlt es hier jedoch.

Von grober Fahrlässigkeit ist ausweislich der Legaldefinition des § 45 Abs. 2 Satz 3 Nr. 3 SGB X auszugehen, wenn der Begünstigte die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat. Dabei ist ein subjektiver Sorgfaltsmaßstab anzulegen und auf die persönliche Urteilsfähigkeit, das Einsichtsvermögen und das Verhalten des Betroffenen sowie die besonderen Umstände des Einzelfalles abzustellen. Für die Annahme grober Fahrlässigkeit ist insbesondere auch bedeutsam, in welchem Umfang der Betroffene auf seine Mitteilungspflichten hingewiesen, insbesondere ob er unmissverständlich darüber belehrt worden ist, dass er bestimmte für den Leistungsempfang wesentliche Umstände mitzuteilen hat (vgl. Verwaltungsgericht Frankfurt (Oder), Urteil vom 4. Juli 2007 – 6 K 471/03 -, zitiert nach juris, dort Rdn. 27 ff.; Verwaltungsgericht Münster, Urteil vom 17. April 2012 – 6 K 2129/10 -, zitiert nach juris, dort Rdn. 20).

Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin vorliegend nicht grob fahrlässig gegen ihre Mitteilungspflicht verstoßen. Es fehlt vielmehr zum einen an einer entsprechend deutlichen und unmissverständlichen Belehrung hierüber. Im Antragsformular selbst heißt es insoweit lediglich, dass sich der Antragsteller verpflichte, „jede Änderung von Tatsachen, die für die Hilfegewährung maßgebend sind, insbesondere Aufenthaltsverhältnisse (z. B. Krankenhaus- oder Altersheimaufnahme, vorübergehende Abwesenheit von 2 oder mehr Monaten) unaufgefordert mitzuteilen.“ Der Bezug von Leistungen der Pflegekasse findet keine ausdrückliche Erwähnung. Dies erfolgte zwar im Bewilligungsbescheid vom 28. Oktober 1997, indem die Klägerin um Mitteilung gebeten wurde, ob sie einen entsprechenden Antrag gestellt habe, da derartige Leistungen, wenn die Klägerin sie erhalte, auf das Landespflegegeld angerechnet würden. Für den Fall, dass sie einen Ablehnungsbescheid erhalten habe, wurde gebeten, diesen zu übersenden. Die Klägerin hatte zu diesem Zeitpunkt jedoch keinen Antrag bei ihrer Pflegekasse gestellt und bezog auch keine entsprechenden Leistungen, so dass dieser Passus für sie ohne Bedeutung gewesen sein dürfte. Eine klare und eindeutige Aufforderung, eine künftige Änderung dieser Sachlage mitzuteilen, enthält der Bescheid nicht. Der Änderungsbescheid vom 10. April 2003 wiederum belehrt zwar ausdrücklich über die Verpflichtung, „jede Änderung von Tatsachen, die für die Hilfegewährung maßgebend sind, insbesondere Aufenthaltsverhältnisse (z. B. Krankenhaus- oder Heimaufenthalte bzw. Besuch einer Kur) sowie die Gewährung gleichartiger Leistungen nach anderen Rechtsvorschriften unaufgefordert“ mitzuteilen, lässt es aber an jeder Erläuterung fehlen, welche Leistungen insoweit gemeint sind.

Eine vollständige Belehrung dürfte sich mithin allenfalls aus einer Gesamtschau der im Abstand von fast sechs Jahren ergangenen Bescheide ergeben; an einem – zumal wiederholten – unmissverständlichen Hinweis auf die Mitteilungspflichten fehlt es dementsprechend vorliegend. Dies um so mehr, als es der Beklagte im Zeitraum von Mai 2003 bis März 2011 gänzlich unterlassen hat, die Klägerin nochmals an ihre Mitteilungspflicht zu erinnern, wodurch er selbst einen erheblichen Verursachungsanteil an der erfolgten Überzahlung trägt. Dass sich die nicht nur blinde, sondern auch hochbetagte Klägerin – im Jahr 2006 war sie 96 Jahre alt – drei Jahre nach Ergehen der letzten – und wie dargestellt unvollständigen – Belehrung hieran nicht mehr erinnerte, rechtfertigt angesichts all dieser Umstände nicht den Vorwurf grober Fahrlässigkeit (vgl. auch Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 25. Juni 2012 – 7 A 10286/12 –, zitiert nach juris, dort Rdn. 36).

Gleiches gilt, soweit ab März 2007 auf die bevollmächtigten Söhne der Klägerin abzustellen wäre. Diese sind vor März 2011 zu keiner Zeit auf die bestehende Mitteilungspflicht hingewiesen worden. Zwar verweist der Beklagte zutreffend darauf, dass einem von ihnen auf eigenes Nachsuchen im November 2003 der letzte Bescheid über die Neufestsetzung des Landesblindengeldes vom 23. Juni 2003 zugesandt worden ist. In diesem Bescheid findet sich jedoch keinerlei Hinweis oder Belehrung hinsichtlich der Verpflichtung, die Änderung maßgebender Umstände mitzuteilen. Dass es die Söhne der Klägerin nach ihrer Bevollmächtigung im Jahre 2007 unterlassen haben, auch die Bescheide vom 28. Oktober 1997 und 10. April 2003 zu sichten, rechtfertigt den Vorwurf grober Fahrlässigkeit ebenfalls nicht, zumal diese Bescheide, wie bereits dargelegt, ohnehin keine hinreichende Belehrung enthalten.

b) Demgegenüber hat der Beklagte zutreffend darauf verwiesen, dass hier ein Fall des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gegeben ist, da die Klägerin mit dem Bezug der Leistungen nach der Pflegestufe I ab Februar 2006 ein Einkommen erzielt hat, das, wie bereits dargelegt, zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt haben würde. Da der Gesetzgeber in Fällen wie diesem in Satz 2 jedoch keine Pflicht zur Rücknahme für die Vergangenheit, sondern vielmehr ein Regel-Ausnahme-Verhältnis begründet hat („soll“), hat die Behörde aber neben den Tatbestandsvoraussetzungen des Satzes 2 stets auch das Vorliegen eines atypischen Falles zu prüfen, der eine Ermessensentscheidung erfordert, ob angesichts der gegebenen Sondersituation von der Rücknahme für die Vergangenheit ganz oder teilweise abgesehen wird (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 23. März 1995 – 13 RJ 39/94 -, zitiert nach juris, dort Rdn.50). Ob ein atypischer Fall vorliegt, unterliegt, da insoweit kein Ermessen besteht, der vollen gerichtlichen Kontrolle (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 28. Juni 1990 – 7 Rar 132/88 -, zitiert nach juris, dort Rdn. 27 sowie Urteil vom 29. Juni 1994 – 1 RK 45/93 -, zitiert nach juris, dort Rdn. 26).

Hier ist vom Vorliegen eines atypischen Falles in diesem Sinne auszugehen.

Maßgeblich kommt es insoweit auf die Umstände des Einzelfalles an. Diese müssen Merkmale aufweisen, die signifikant vom (typischen) Regelfall abweichen, in dem die Rechtswidrigkeit eines ursprünglich richtigen Verwaltungsaktes durch nachträgliche Veränderungen in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist. Dabei ist auch das Verhalten des Leistungsträgers im Geschehensablauf in die Betrachtung einzubeziehen. Mitwirkendes Fehlverhalten auf seiner Seite, das als eine atypische Behandlung im Sinne einer Abweichung von der grundsätzlich zu erwartenden ordnungsgemäßen Sachbearbeitung zu werten ist, kann im Einzelfall die Atypik des verwirklichten Tatbestandes nach § 48 Abs. 1 SGB X ergeben (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 28. Juni 1990 – 7 Rar 132/88 -, a. a. O., dort Rdn. 28 sowie Urteil vom 29. Juni 1994 – 1 RK 45/93 -, a. a. O., dort Rdn. 27).

Wie oben bereits dargelegt, hat der Beklagte hier einen erheblichen Anteil an der erfolgten Überzahlung, indem er es einerseits in den in Rede stehenden Bewilligungsbescheiden an einer hinreichend unmissverständlichen Belehrung der Klägerin über die sie treffenden Mitteilungspflichten fehlen ließ und es andererseits im Zeitraum von Mai 2003 bis März 2011, also fast acht Jahre lang, gänzlich unterließ, die Klägerin nochmals an ihre Mitteilungspflichten zu erinnern bzw. die Beantragung von Pflegegeld zu veranlassen, wie dies dann erst mit Schreiben vom 15. März 2011 geschehen ist. Wie die prompte Reaktion der Söhne der Klägerin auf dieses Schreiben zeigt, hätte die erhebliche Überzahlung vermieden werden können, wenn der Beklagte den Sachstand in regelmäßigen Abständen kontrolliert und die – hochbetagte – Klägerin hinreichend klar belehrt hätte.

Nicht entgegen steht, dass § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X für die rückwirkende Aufhebbarkeit eines Verwaltungsaktes lediglich den Eintritt bestimmter objektiver Bedingungen verlangt und die Frage des Verschuldens des Betroffenen im Gegensatz zu den Nummern 2 und 4 hier keine Rolle spielt. Dies bedeutet nämlich nicht, dass subjektive Zusammenhänge bei der Beurteilung, ob ein atypischer Fall vorliegt, in den Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 SGB X gänzlich außer acht zu bleiben hätten. Vielmehr kann ein Mitverschulden des Leistungsträgers an der Überzahlung in allen Fällen des § 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X von Bedeutung sein (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 28. Juni 1990 – 7 Rar 132/88 -, a. a. O., dort Rdn. 30).

Ist vorliegend demnach von einem atypischen Fall auszugehen, hatte der Beklagte in pflichtgemäßer Ausübung des ihm dann zukommenden, gerichtlich nach Maßgabe des § 114 VwGO überprüfbaren, Ermessens Erwägungen anzustellen, von einer Aufhebung der Bewilligungsbescheide für die Vergangenheit ganz oder teilweise abzusehen. Daran fehlt es hier. Weder der Aufhebungsbescheid vom 22. März 2011 noch der Widerspruchsbescheid vom 30. Mai 2013 enthalten insoweit Ausführungen, denen sich entnehmen ließe, dass der Beklagte entsprechende Überlegungen angestellt hat bzw. sich überhaupt eines diesbezüglichen Ermessensspielraums bewusst gewesen ist. Der Hinweis im Widerspruchsbescheid, dass Verschuldens- oder Vertrauensgesichtspunkte für die Geltendmachung des Erstattungsanspruches unerheblich seien, da die entsprechende Prüfung abschließend im Aufhebungsverfahren erfolgt sei, vermag nicht darüber hinwegzuhelfen, dass in diesem Zusammenhang etwa angestellte Überlegungen des Beklagten ersichtlich jedenfalls nicht in die Bescheide eingeflossen sind. Selbst wenn hierfür die Ausführungen des Beklagten zu einer grob fahrlässigen Verletzung der Mitteilungspflicht durch die Klägerin in Bezug zu nehmen wären, hätte der Beklagte hierdurch sein Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt, wofür auf die obigen Ausführungen verwiesen wird.

2. Gemäß § 50 Abs. 1 SGB X kommt eine Erstattung bereits erbrachter Leistungen nur in Betracht, soweit ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist. Da die Aufhebung der Bewilligungsbescheide rückwirkend zum Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse hier rechtswidrig erfolgte und der entsprechende Aufhebungsbescheid deshalb seinerseits aufzuheben ist, erweist sich auch der entsprechende Rückforderungsbescheid vom 22. März 2011 als rechtswidrig.

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 der Zivilprozessordnung.