Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 2. Senat | Entscheidungsdatum | 13.12.2011 | |
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Aktenzeichen | OVG 2 M 40.11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 3 Abs 1 GG, Art 6 GG, Art 19 Abs 4 GG, § 166 VwGO, § 114 ZPO, § 121 ZPO, § 5 Abs 1 Nr 1 AufenthG, § 25 Abs 3 AufenthG, § 29 Abs 3 S 1 AufenthG |
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 6. Juni 2011 wird geändert. Den Klägerinnen wird mit Wirkung vom 12. Dezember 2011 Prozesskostenhilfe für den ersten Rechtszug bewilligt und ihnen Rechtsanwältin V. K. beigeordnet.
Die Beschwerde der Klägerinnen ist begründet. Die Klägerinnen haben nach § 166 VwGO in Verbindung mit § 114 und § 121 ZPO einen Anspruch auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe und Beiordnung eines Rechtsanwalts für das erstinstanzliche Verfahren. Die beabsichtigte Rechtsverfolgung hat im Verfahren der ersten Instanz hinreichende Aussicht auf Erfolg und ist deshalb auch nicht mutwillig. Eine hinreichende Erfolgsaussicht ist zu bejahen, wenn die Sach- und Rechtslage bei summarischer Prüfung als zumindest offen erscheint, wobei die Anforderungen im Hinblick auf den Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) und die Gewährung effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) nicht überspannt werden dürfen. Somit muss der Erfolg nicht gewiss sein; es genügt eine gewisse Wahrscheinlichkeit, die bereits gegeben ist, wenn ein Obsiegen im Hauptsacheverfahren ebenso wahrscheinlich ist wie ein Unterliegen (vgl. Beschluss des Senats vom 10. August 2011 – OVG 2 M 27.11 -).
Hiervon ausgehend bestehen hinreichende Erfolgsaussichten für die auf Erteilung von Visa zum Familiennachzug zu ihrem in Deutschland lebenden albanischen Ehemann bzw. Vater gerichtete Klage der Klägerinnen.
Der Senat geht bei der anzustellenden summarischen Prüfung in tatsächlicher Hinsicht davon aus, dass die dem Ehemann bzw. Vater der Klägerinnen zuletzt unter dem 2. Februar 2010 erteilte und bis zum 7. November 2011 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG nochmals verlängert worden ist oder jedenfalls aufgrund rechtzeitiger Antragstellung nach § 81 Abs. 4 AufenthG als fortbestehend gilt.
Bei dieser Sachlage erscheint es jedenfalls als möglich, dass den Klägerinnen der von ihnen geltend gemachte Anspruch zusteht. Im Ausgangspunkt geht zwar das Verwaltungsgericht zutreffend davon aus, dass der Lebensunterhalt der Klägerinnen nicht gesichert ist, weil ihr Ehemann bzw. Vater Leistungen nach dem SGB II bezieht und die Klägerin zu 1. mit dem von ihr vorgelegten Angebot eines Restaurants, als Küchenhilfe auf 400-Euro-Basis zu arbeiten, den Bedarf der Familie nicht abdecken könnte. Die Klägerinnen sind daher voraussichtlich nicht in der Lage, ihren Lebensunterhalt ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel zu bestreiten.
Abweichend von der Bewertung des Verwaltungsgerichts bestehen hier aber möglicherweise besondere, atypische Umstände, die es ausnahmsweise erlauben, von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG abzusehen. Ein Ausnahmefall von der regelmäßig zu erfüllenden Voraussetzung der Unterhaltssicherung liegt u. a. vor, wenn die Erteilung des Aufenthaltstitels aus Gründen höherrangigen Rechts wie etwa Art. 6 GG geboten ist, z.B. weil die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist (vgl. BVerwG, Urteile vom 30. April 2009 – 1 C 3.08 -, juris Rn. 13 und vom 26. August 2008 – 1 C 32.07 -, juris Rn. 27). Dem liegt zu Grunde, dass Art. 6 GG zwar keinen unmittelbaren Anspruch auf Aufenthalt gewährt, die in Art. 6 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, jedoch einen Anspruch des Trägers des Grundrechts darauf vermittelt, dass die zuständigen Behörden und Gerichte bei der Entscheidung über das Aufenthaltsbegehren seine familiären Bindungen an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, angemessen berücksichtigen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17. Mai 2011 – 2 BvR 1367/10 -, juris Rn. 14).
Unter Berücksichtigung dessen liegt es hier nicht fern, dass eine mit Blick auf Art. 6 GG angemessene Berücksichtigung der familiären Bindungen der Klägerinnen an ihren in Deutschland lebenden Ehemann bzw. Vater es gebietet, die Herstellung der familiären Einheit im Bundesgebiet zu ermöglichen. Für diesen wurde mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 21. Juli 2004 festgestellt, dass aufgrund der in Albanien zu erwartenden Verschlimmerung seiner Erkrankung ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG 1990 hinsichtlich Albanien vorliegt. Dies könnte dafür sprechen, dass eine Herstellung der Familieneinheit im gemeinsamen Herkunftsland unmöglich ist. Eine insoweit abschließende Prüfung ist nicht Aufgabe des summarischen Verfahrens der Prozesskostenhilfe, sondern muss dem beim Verwaltungsgericht anhängigen Klageverfahren vorbehalten bleiben.
Eine andere Bewertung ergibt sich bei summarischer Prüfung auch nicht aus der den Familiennachzug einschränkenden Voraussetzung des § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG. Danach darf u.a. dem Ehegatten und dem minderjährigen Kind eines Ausländers, der eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 besitzt, nur aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland eine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden. In Rechtsprechung und Literatur wird vertreten, dass ein humanitärer Grund im Sinne dieser Vorschrift bereits dann anzunehmen sei, wenn der stammberechtigte Ausländer eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG besitzt und deshalb die Herstellung der familiären Einheit im gemeinsamen Herkunftsland unmöglich ist (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. März 2010 – OVG 3 B 9.08 -, juris Rn. 28; Marx in: GK-AufenthG, Stand: November 2011, § 29 Rn. 166). Es erscheint daher bei summarischer Prüfung als möglich, dass im vorliegenden Fall § 29 Abs. 3 Satz 1 AufenthG der Erteilung von Visa zum Familiennachzug nicht entgegensteht. Auch insoweit muss eine abschließende Klärung im anhängigen Klageverfahren erfolgen.
Die Klägerinnen sind nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen auch nicht in der Lage, die Kosten der Prozessführung aufzubringen (§ 114 Satz 1 ZPO).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).