Toolbar-Menü
 
Sie sind hier: Gerichtsentscheidungen Rente wegen Erwerbsminderung - Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen...

Rente wegen Erwerbsminderung - Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen - betriebsübliche Bedingungen


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 33. Senat Entscheidungsdatum 20.11.2013
Aktenzeichen L 33 R 169/12 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 43 SGB 6

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 2011 geändert. Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 30. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2010 verurteilt, der Klägerin aufgrund eines am 19. November 2012 eingetretenen Leistungsfalles Rente wegen voller Erwerbsminderung auf Zeit ab dem 01. Juni 2013 bis zum 31. Mai 2016 zu gewähren. Im Übrigen wird die Berufung zurückgewiesen.

Die Beklagten trägt die Hälfte der notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Streitig ist die Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab dem 01. September 2008.

Die 1958 geborene Klägerin absolvierte vom 01. September 1974 bis zum 31. August 1977 erfolgreich eine Ausbildung zur Zahntechnikerin. In der Folgezeit war sie bis April 1991 in der Betriebspoliklinik der Druckereien und Verlage als Zahntechnikerin beschäftigt. Im Zuge der Umorganisation der Poliklinik beendete die Klägerin ihre Beschäftigung dort und nahm ab dem 01. Mai 1991 eine Arbeit in der häuslichen Krankenpflege auf. Vom 02. Januar 1992 bis zum 31. Januar 1996 war sie als Verwaltungssachbearbeiterin bei der Firma K Zahntechnik beschäftigt. Vom 02. Mai 1996 bis zum 14. Juli 1996 arbeitete sie erneut bei der Firma K Zahntechnik. Nach eigenen Angaben beendete sie das Beschäftigungsverhältnis selbst wegen gesundheitlicher Probleme und einer anderen Tätigkeit in Wohnortnähe. Vom 15. Juli 1996 bis zum 29. Oktober 1996 arbeitete sie als Disponentin im Zahntechnischen Labor Dentallabor C. Das Arbeitsverhältnis wurde durch den Arbeitgeber in der Probezeit ohne Begründung gekündigt. Danach war sie vom 01. April 1997 bis zum 31. Oktober 1997 ebenfalls als Disponentin bei der Firma Dentaltechnik RGmbH beschäftigt. Das Beschäftigungsverhältnis wurde aus wegen mangelnden Umsatzes beendet. Vom 01. April 1998 bis zum 30. April 1998 arbeitete sie wieder bei Dentaltechnik R und zwar als Verwaltungsangestellte. Das Arbeitsverhältnis endete in der Probezeit wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten und einer Kur der Klägerin. Vom 02. August 1998 bis zum 31. August 1998 war sie befristet zur Urlaubsvertretung als Verwaltungsangestellte bei Dentaltechnik Rbeschäftigt, wobei sie vertretungsweise auch zahntechnische Arbeiten ausführen musste. Ab Oktober 2002 nahm sie eine Teilzeittätigkeit auf und führte Büroarbeiten aus. Vom 20. September 2004 bis zum 14. Februar 2005 arbeitete sie bei der Firma F und Ä – Dental – GmbH als Bürokauffrau und vom 01. September 2006 bis zum 28. Februar 2008 als Verwaltungsangestellte bei der Firma Dental-Studio Dr. R & Co. GmbH beschäftigt. Ab dem 26. Juli 2007 bestand Arbeitsunfähigkeit. Im November 2007 trat Insolvenz des Unternehmens ein. Am 22. Februar 2008 wurde sie gekündigt. Die Klägerin hat anschließend keine berufliche Tätigkeit mehr aufgenommen. Sie bezieht Arbeitslosengeld II. Bei ihr ist ein Grad der Behinderung (GdB) von 60 anerkannt (Bescheid des Landesamtes für Gesundheit und Soziales Berlin vom 30. April 2007).

Bereits am 16. Dezember 1996 stellte die Klägerin einen Antrag auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit im Hinblick auf eine Depression, Rheuma, psychosomatischen Beschwerdekomplex, Wirbelsäulendegenration, chronische Schmerzzustände und Kopfschmerzen. Die Beklagte (damals noch Bundesversicherungsanstalt für Angestellte) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 17. Oktober 1997 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 27. April 1999 ab. Das anschließende Klageverfahren vor dem Sozialgericht Berlin (SG) zu dem Aktenzeichen S 10 RA 2010/99 endete durch klageabweisendes Urteil vom 30. November 2001. Die dagegen gerichtete Berufung vor dem Landessozialgericht Berlin zu dem Aktenzeichen L 16 RA 10/02 nahm die Klägerin zurück.

Vom 28. Juni 2008 bis zum 26. Juli 2008 befand sich die Klägerin in der Anschlussheilbehandlung in der Fachklinik F im Gefolge einer Implantation einer Bandscheibenprothese C5/6. Aus der Behandlung wurde sie als derzeit nur für drei- bis unter sechs Stunden leistungsfähig für ihre letzte Tätigkeit als Verwaltungsangestellte in einem Dentallabor entlassen. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bestehe ein Leistungsvermögen von sechs Stunden und mehr für körperlich leichte Arbeiten zeitweise im Stehen, überwiegend im Gehen und Sitzen, ohne übermäßige und monotone Belastung des Stütz- und Bewegungsapparates (wie schwer heben und Tragen, Bücken, Zwangshaltungen und Überkopfarbeiten) bei Vermeidung von Tätigkeiten in Nässe, Kälte, Zugluft und extremen Temperaturschwankungen.

Am 26. September 2008 beantragte die Klägerin die Gewährung einer Erwerbsminderungsrente. In dem Antrag hielt sie sich seit Februar 2008 für erwerbsgemindert u. a. im Hinblick auf Bandscheibenimplantate, Depressionen und degenerative Veränderungen des Stütz- und Bewegungsapparates.

Die Beklagte veranlasste eine orthopädische Begutachtung durch Dr. S am 02. Dezember 2008. In seinem Gutachten vom 08. Dezember 2008 stellte er folgende Gesundheitsstörungen fest:

• Rheumatoide Polyarthritis

• Chronisches Halswirbelsäulensyndrom

• Zustand nach Implantation von Bandscheibenprothesen C5/6 und C6/7

• Brachialgie rechts

• Chronisches Lendenwirbelsäulensyndrom

• Periarthritis humeroscapularis calcarea rechts

• Reizzustand AC-Gelenk beidseits

• Adipositas.

Die Klägerin könne ihre letzte Tätigkeit als Verwaltungsangestellte noch täglich regemäßig sechs Stunden und mehr ausüben, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne sie leichte körperliche Arbeiten in wechselnder Körperhaltung in beheizten Räumen, ohne Zugluft und ohne längere Überkopfarbeiten ausüben. In seiner Stellungnahme vom 07. Oktober 2008 hielt der beratende Arzt S die Klägerin für in der Lage, ihre letzte berufliche Tätigkeit täglich sechs Stunden und mehr zu verrichten. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien körperlich leichte Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter Vermeidung unphysiologischer Zwangshaltung, ohne besondere Anforderung an die grobe Kraft der Hände sowie an feinmotorische Fertigkeiten der Hände, ohne Exposition gegenüber Kälte, Nässe oder Zugluft und nicht auf Treppen, Leitern bzw. Gerüsten sechs Stunden und mehr zumutbar. Die Beklagte lehnte die beantragte Rente mit Bescheid vom 30. Dezember 2008 ab. Auf den Widerspruch der Klägerin holte die Beklagte Befundberichte der Augenärztin F vom 12. Mai 2009, des Arztes für Nervenheilkunde K vom 26. Mai 2009, der Orthopädin Dipl.-Med. S vom 04. Mai 2009, des praktischen Arztes Dr. Mvom 07. Mai 2009 sowie der Fachärztin für Physiotherapie Dr. D vom 30. Mai 2009 ein. Anschließend erstellte die Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L am 28. Juli 2009 (Untersuchung der Klägerin am 27. Juli 2009) ein Gutachten, in welchem sie zu folgenden Diagnosen gelangte:

Anpassungsstörung nach wiederholten operativen Eingriffen und familiären Belastungen mit subdepressiven Verstimmungen und Somatisierung bei akzentuierter Primärpersönlichkeit
Verdacht auf Dysthymia
Zustand nach zweimaliger Halswirbelsäulen-Operation 07/2005 in Höhe HWK C 6/7 mit Implantat und Rezidiv-OP 06/2008 in Höhe HWK 5/6
Hypertonus
Zustand nach Arthroskopie links 07/2007
03/2009 Hysterektomie.

Die letzte Tätigkeit als Dispatcherin im Zahnlabor mit überwiegend organisatorischen Aufgaben sei ihr unter Vermeidung von Zwangshaltungen und schwerem heben und Tragen weiterhin vollschichtig zumutbar. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt seien ihr leichte körperliche Arbeiten im Wechsel der Haltungsarten ohne Zwangshaltungen, Überkopfarbeiten sowie schwerem Heben und Tragen sechs Stunden und mehr täglich zumutbar. Die Beklagte wies den Widerspruch daraufhin mit Widerspruchsbescheid vom 15. Januar 2010 zurück.

Mit ihrer am 04. Februar 2010 bei dem Sozialgericht Berlin (SG) eingegangenen Klage hat die Klägerin die Auffassung vertreten, sie sei außerstande, selbst leichte Frauen arbeiten im Wechsel der Haltungsarten unter betriebsüblichen Bedingungen sechs Stunden täglich auszuüben.

Das SG hat Befundberichte von Herrn Kvom 09. April 2010, von Dipl.-Med. S vom 16. April 2010, von Dr. F vom 21. April 2010, von der Neurologin Dr. P vom 17. April 2010, von Dr. M vom 22. April 2010, von der Anästhesiologin Dr. Taupadel vom 03. August 2010, von Dr. Dommasch vom 13. August 2010 sowie von dem Internisten Dr. G vom 30. August 2010 eingeholt. Ferner ist der Entlassungsbericht der Fachklinik F vom 21. April 2011 (stationärer Aufenthalt vom 29. März bis zum 19. April 2011; Diagnosen: Impingement-Syndrom der Schulter, zervikozephales Syndrom, sonstige näher bezeichnete Bandscheibenverlagerung, sonstige näher bezeichnete chronische Polyarthritis, Osteoporose; Leistungsvermögen: unter drei Stunden als Disponentin, sechs Stunden und mehr für körperlich leichte Arbeiten überwiegend im Sitzen bei gelegentlichem Haltungswechsel ohne Zwangshaltungen und Überkopfarbeiten) zur Akte gelangt.

Das Gericht hat den Facharzt für Neurologie und Psychiatrie, Psychotherapie, forensische Psychiatrie, Dr. L, mit der Untersuchung der Klägerin und Erstellung eines Gutachtens beauftragt. In dem am 22. August 2011 nach einer Untersuchung der Klägerin am 17. Januar 2011 fertig gestellten Gutachten hat dieser auf seinem Fachgebiet eine Dysthymia diagnostiziert und die Klägerin für in der Lage gehalten, ihre Beruf sowie Tätigkeiten mit einem vergleichbaren Anforderungsprofil weiterhin auszuüben. Die Frage des Leistungsvermögens sei überwiegend auf orthopädischem Fachgebiet zu beantworten. Auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt könne die Klägerin aus seiner Sicht Arbeiten im festgelegten Arbeitsrhythmus, nicht jedoch Arbeiten unter Zeitdruck verrichten. Arbeiten in Wechsel- oder Nachtschicht seien ausgeschlossen, Arbeiten überwiegend am Computer seien zumutbar. Das Reaktionsvermögen sei aufgrund der eingenommenen Medikamente eingeschränkt.

Der anschließend vom Gericht beauftragte orthopädische Sachverständige – Dr. K – hat in seinem Gutachten vom 13. Oktober 2011 (Untersuchung der Klägerin am 12. Oktober 2011) folgende Erkrankungen auf seinem Fachgebiet festgestellt:

Rezidivierendes Zervikalsyndrom, zervikozephales Syndrom mit intermittierender Brachialgie beidseits links mehr als rechts bei Zustand nach Bandscheibenersatz C5/6 und C6/7 mit mittelgradigem Funktionsdefizit
Chronisch rezidivierendes Lumbalsyndrom, lumbales Facettensyndrom mit intermittierender Ischialgie rechts bei geringen degenerativen Veränderungen der unteren Lendenwirbelsäule und geringer Belastungsminderung
Impingement-Syndrom linkes Schultergelenk mit partieller Schultersteife mit mittelgradigem Funktionsdefizit
Initiale Heberden-/Bouchard-Arthrose bei geringen bis mäßigen degenerativen Veränderungen mit geringem Funktionsdefizit
Coxalgie rechts mit geringem Funktionsdefizit
Arthralgie beider oberer Sprunggelenke, links mehr als rechts bei Verdacht auf Arthritis linkes oberes Sprunggelenk, Knick-Senk-Spreizfuß beidseits mit geringem bis mäßigem Funktionsdefizit
Manifeste Osteoporose

Die Klägerin könne nur noch leichte körperliche sowie geistig einfache bis mittelschwere Arbeiten unter Meidung längerer, die Halswirbelsäule in einseitiger Position belastender Tätigkeiten täglich acht Stunden verrichten. Arbeiten über der Horizontalen und insbesondere Überkopfarbeiten seien dauerhaft nicht möglich. Es bestehe eine Belastungsminderung für längeres Gehen und Stehen sowie häufiges Treppensteigen. Es sei eine Tätigkeit überwiegend im Sitzen bei regelmäßigem Haltungswechsel zu empfehlen. Lasten von 5 bis 10 kg könnten mehrfach täglich angehoben und bis zu 10 m weit getragen werden. Die Arbeiten sollten vorwiegend in geschlossenen Räumen unter Vermeidung von Feuchtigkeit und Nässe ausgeführt werden. Nachtschicht sei nicht zumutbar. Arbeiten im Steigen oder Klettern seien der Klägerin auf Dauer nicht möglich, das seltene Benutzen einer Trittleiter sei möglich. Es bestehe eine anhaltende Belastungsminderung beider Hände für grobmotorische Arbeiten, die Greiffunktion sei dauerhaft gering eingeschränkt. Leichte feinmotorische Arbeiten seien uneingeschränkt möglich. Es bestünden keine Einschränkungen für Arbeiten überwiegend oder teilweise am Computer. Die Gesundheitsstörungen hätten keine Auswirkungen auf die geistige Leistungsfähigkeit. Die Wegefähigkeit sei erhalten.

Das SG hat die Klage durch Urteil ohne mündliche Verhandlung vom 15. Dezember 2011 abgewiesen und sich zur Begründung auf die eingeholten Gutachten gestützt. Danach könne die Klägerin ihre letzte berufliche Tätigkeit als Dispatcherin in einem Dentallabor weiterhin sechs Stunden täglich ausüben.

Gegen das am 24. Februar 2012 zugestellte Urteil richtet sich die am 27. Februar 2012 bei dem Landessozialgericht Berlin-Brandenburg (LSG) eingegangenen Berufung, mit der die Klägerin ihr erstinstanzliches Begehren weiter verfolgt.

Sie beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 15. Dezember 2011 sowie den Bescheid der Beklagten vom 30. Dezember 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15. Januar 2010 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab dem 01. September 2008 Rente wegen voller Erwerbsminderung, hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung, äußerst hilfsweise wegen teilweiser Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend.

Die Klägerin hat sich vom 12. Oktober 2012 bis zum 02. November 2012 nach einer Operation im Bereich der linken Schulter in stationärer Behandlung der Fachklinik und Moorbad Bad Freienwalde befunden, aus der sie als arbeitsunfähig entlassen worden ist. Das Leistungsvermögen für die letzte Tätigkeit als Disponentin ist als unter dreistündig, das für körperliche leichte Arbeiten überwiegend im Gehen, überwiegend im Sitzen, zeitweise im Stehen ist vollschichtig eingeschätzt worden. In der sozialmedizinischen Epikrise des Entlassungsberichtes vom 15. November 2012 wird empfohlen, eine übermäßige und monotone Belastung des Stütz- und Bewegungsapparates wie schweres Heben und Tragen, Bücken, Hocken, Knien, die Einnahme von Zwangshaltungen sowie Überkopfarbeiten und das Einwirken von widrigen Witterungsverhältnissen wie Nässe, Kälte, Zugluft und Durchnässung zu vermeiden. Es bestehe eine eingeschränkte Gebrauchsfähigkeit der Hände und Finger aufgrund der rheumatoiden Arthritis.

Der Senat hat den Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. G mit der Untersuchung der Klägerin und Erstellung eines Gutachtens betraut. In dem am 26. November 2012 fertig gestellten Gutachten hat dieser nach einer Untersuchung der Klägerin am 19. November 2012 folgende Erkrankungen auf seinem Fachgebiet diagnostiziert:

Chronisches Zervikalsyndrom bei Zustand nach Implantation einer Bandscheibenprothese im Segment C6/7 am 06.07.2005, Zustand nach Implantation einer Bandscheibenprothese C5/6 am 09.06.2008
Fehlstatik der Wirbelsäule, S-förmige Thorakolumbalskoliose
Chronisches Pseudoradikulärsyndrom der Lendenwirbelsäule bei Zustand nach Prolaps L5/S1, Osteochondrosis intervertebralis der Segmente LWK4/5 und LWK5/SWK1
Zustand nach mehrfachen Operationen des linken Schultergelenks 07/2007, 12/2010, 08/2012
Impingementsyndrom des linken Schultergelenks
Chronisch-rheumatoide Polyarthritis mit Fokus im Bereich der Hände und Zehengelenke
Zustand nach rezidivierender Distorsion des linken oberen Sprunggelenks, zuletzt 08/2012

Die Klägerin könne regelmäßig täglich noch körperlich leichte sowie geistig einfache Arbeiten in geschlossenen Räumen unter Vermeidung von Hitze, Kälte, Zugluft, Staub und Feuchtigkeit im Wechsel der Haltungsarten täglich mindestens acht Stunden lang verrichten. Arbeiten mit einseitiger körperlicher Belastung, Arbeiten unter Zeitdruck, im festgelegten Arbeitsrhythmus sowie an laufenden Maschinen seien nicht mehr zumutbar. Das Heben und Tragen von Lasten sei rechtsseitig bis 10 kg, linksseitig nicht mehr möglich. Eine berufliche Tätigkeit in Wechsel- und Nachtschicht sei zu vermeiden. Das Arbeiten auf Leitern und Gerüsten sei auch kurzzeitig oder gelegentlich aufgrund der Absturzgefahr zu vermeiden. Arbeiten, die besondere Anforderungen an die Fingergeschicklichkeit stellten, seien nicht zumutbar. Überkopfarbeiten sowie Arbeiten, die mit einer Halswirbelsäulen/Rumpfrotation einhergingen, seien zu vermeiden. Die Belastbarkeit des linken Beines sei eingeschränkt. Arbeiten, die überwiegend bzw. teilweise am Computer ausgeführt würden, seien der Klägerin zumutbar, wenn nach etwa einer Stunde sitzender Tätigkeit ein kurzzeitiger Haltungswechsel durchgeführt werde. Die Klägerin nehme analgetische Medikation sein, die das Reaktionsvermögen beinträchtige. Zu berücksichtigen sei anamnestisch eine Quadrantenanopsie (Gesichtsfeldeinschränkung) rechts. Für den Weg zur Arbeitsstelle seien keine Besonderheiten zu berücksichtigen. Aktuell sei aufgrund der noch andauernden Rehabilitationsphase des linken Armes das Führen eines Pkws ausgeschlossen. Die üblichen betriebsbedingten Pausen seien ausreichend.

Die Klägerin meint, auf der Grundlage der gutachterlichen Feststellungen sei sie nicht mehr in der Lage, unter betriebsüblichen Bedingungen auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu arbeiten.

Die Beklagte ist der Auffassung, es habe sich nach der Begutachtung kein neuer Sachverhalt ergeben. Die Klägerin sei jedenfalls verweisbar auf die Tätigkeit einer Telefonistin.

Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 23. April 2013 und 25. April 2013 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin anstelle des Senats (§§ 155 Abs. 3 und 4 Sozialgerichtsgesetz <SGG>) erteilt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichts- und Rentenakten sowie der Gerichtsakten zu dem Aktenzeichen S 10 RA 2010/99 – L 16 RA 10/02 verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung der Klägerin ist zulässig und teilweise begründet. Ihr steht eine Rente wegen voller Erwerbsminderung zu.

Der ab 2008 geltend gemachte Rentenanspruch richtet sich nach § 43 Abs. 1, 2 Sechstes Sozialgesetzbuch (SGB VI) in der ab dem 01. Januar 2001 geltenden Fassung.

Danach haben Versicherte bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung, wenn sie teilweise oder voll erwerbsgemindert sind.

Teilweise erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 1 S. 2 SGB VI).

Voll erwerbsgemindert sind Versicherte, die wegen Krankheit oder Behinderung auf nicht absehbare Zeit außerstande sind, unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig zu sein (§ 43 Abs. 2 S. 2 SGB VI).

Nach § 43 Abs. 3 SGB VI ist nicht erwerbsgemindert, wer unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts mindestens sechs Stunden täglich erwerbstätig sein kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Nach § 240 Abs. 1 SGB VI haben Versicherte, die vor dem 02. Januar 1961 geboren und berufsunfähig sind, bei Erfüllung der sonstigen Voraussetzungen bis zur Vollendung des 65. Lebensjahres Anspruch auf Rente wegen teilweiser Erwerbsminderung. Berufsunfähig sind nach § 240 Abs. 2 SGB VI Versicherte, deren Erwerbsfähigkeit wegen Krankheit oder Behinderung im Vergleich zur Erwerbsfähigkeit von körperlich, geistig und seelisch gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fähigkeiten auf weniger als sechs Stunden gesunken ist. Der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit von Versicherten zu beurteilen ist, umfasst alle Tätigkeiten, die ihren Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihnen unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs ihrer Ausbildung sowie ihres bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen ihrer bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können. Zumutbar ist stets eine Tätigkeit, für die die Versicherten durch Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben mit Erfolg ausgebildet oder umgeschult worden sind. Berufsunfähig ist nicht, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann; dabei ist die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen.

Dies zugrunde gelegt und nach Auswertung des im Verwaltungsverfahren erstellten Gutachtens des Orthopädin Dr. Svom 08. Dezember 2008 und der Fachärztin für Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie Dr. L vom 28. Juli 2009 sowie der im Gerichtsverfahren eingeholten Gutachten des Facharztes für Neurologie und Psychiatrie Dr. L vom 22. August 2011, des Orthopäden Dr. K vom 13. Oktober 2011 sowie des Facharztes für Orthopädie und Unfallchirurgie Dr. G vom 26. November 2012 steht zur Überzeugung des Senats nach § 128 Abs. 1 SGG nicht fest, dass die Klägerin nicht mehr unter den üblichen Bedingungen des Arbeitsmarktes mindestens sechs Stunden erwerbstätig sein kann und.

Die Klägerin leidet nach den Feststellungen der Gutachter unter:

Chronisches Zervikalsyndrom bei Zustand nach Implantation einer Bandscheibenprothese im Segment C6/7 am 06.07.2005, Zustand nach Implantation einer Bandscheibenprothese C5/6 am 09.06.2008
Fehlstatik der Wirbelsäule, S-förmige Thorakolumbalskoliose
Chronisches Pseudoradikulärsyndrom der Lendenwirbelsäule bei Zustand nach Prolaps L5/S1, Osteochondrosis intervertebralis der Segmente LWK4/5 und LWK5/SWK1
Zustand nach mehrfachen Operationen des linken Schultergelenks 07/2007, 12/2010, 08/2012
Impingementsyndrom des linken Schultergelenks
Chronisch-rheumatoide Polyarthritis mit Fokus im Bereich der Hände und Zehengelenke
Zustand nach rezidivierender Distorsion des linken oberen Sprunggelenks, zuletzt 08/2012
Dysthymia.

Unter Berücksichtigung dieser Gesundheitsstörungen ist der letzte Gutachter, Dr. G, zu dem Schluss gelangt, die Klägerin könne

regelmäßig täglich noch körperlich leichte Arbeiten sowie
geistig einfache Arbeiten
in geschlossenen Räumen unter Vermeidung von Hitze, Kälte, Zugluft, Staub und Feuchtigkeit
im Wechsel der Haltungsarten
ohne Arbeiten mit einseitiger körperlicher Belastung
nicht unter Zeitdruck
nicht im festgelegten Arbeitsrhythmus
nicht an laufenden Maschinen
bei Heben und Tragen von Lasten sei rechtsseitig bis 10 kg
ohne Heben und Tragen von Lasten linksseitig
nicht in Wechselschicht
nicht in Nachtschicht
nicht – auch nicht kurzzeitig oder gelegentlich - auf Leitern und Gerüsten
ohne Arbeiten, die besondere Anforderungen an die Fingergeschicklichkeit stellten
ohne Überkopfarbeiten
ohne Arbeiten, die mit einer Halswirbelsäulen/Rumpfrotation einhergingen
bei eingeschränkter Belastbarkeit des linken Beines Arbeiten
überwiegend bzw. teilweise am Computer auszuführende Arbeiten nur bei kurzzeitigem Haltungswechsel nach etwa einer Stunde sitzender Tätigkeit
bei beeinträchtigtem Reaktionsvermögen und
unter Berücksichtigung einer Quadrantenanopsie (Gesichtsfeldeinschränkung) rechts

noch vollschichtig, d. h. acht Stunden täglich verrichten.

Trotz dieses festgestellten Leistungsvermögens der Klägerin von sechs Stunden und mehr für körperlich leichte Arbeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist zur Überzeugung des Senats ein Anspruch der Klägerin auf Rente wegen voller Erwerbsminderung jedoch gegeben, wenn bei ihr eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen bzw. eine schwere spezifische Leistungsbehinderung vorliegt und der Klägerin keine Tätigkeit benannt werden kann, die sie trotz ihrer qualitativen Leistungseinschränkungen noch mindestens sechs Stunden täglich verrichten kann. Eine schwere spezifische Leistungsbehinderung meint die Fälle, in denen bereits eine einzige schwerwiegende Behinderung ein weites Feld von Verweisungsmöglichkeiten versperrt (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2003 - B5 RJ 64/02 R – in juris). Als Beispiel hierfür ist etwa die Einarmigkeit eines Versicherten zu nennen.

Das Merkmal "Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen" trägt hingegen dem Umstand Rechnung, dass auch eine Vielzahl von Einschränkungen, die jeweils nur einzelne Verrichtungen oder Arbeitsbedingungen betreffen, zusammengenommen das noch mögliche Arbeitsfeld in erheblichem Umfang zusätzlich einengen können. In diesen Fällen besteht die Verpflichtung, ausnahmsweise eine konkrete Tätigkeit zu benennen, weil der Arbeitsmarkt möglicherweise für diese überdurchschnittlich leistungsgeminderten Versicherten keine Arbeitsstelle bereithält oder nicht davon ausgegangen werden kann, dass es für diese Versicherten eine ausreichende Anzahl von Arbeitsplätzen gibt oder ernste Zweifel daran aufkommen, ob der Versicherte in einem Betrieb einsetzbar ist (BSG Urteil vom 10. Dezember 2003 – B 5 RJ 64/02 R - in juris).

Bei der Prüfung der Frage, ob eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vorliegt, sind grundsätzlich alle qualitativen Einschränkungen zu berücksichtigen, die nicht bereits von dem Erfordernis "körperlich leichte Arbeit" erfasst werden. Es umfasst begrifflich unter anderem solche Leistungseinschränkungen, die das Seh- und Hörvermögen, die Handbeweglichkeit oder die Einwirkung bestimmter Witterungseinflüsse (Kälte, Nässe, Staub) betreffen (Gürtner in Kassler Kommentar zum SGB, 78. Ergänzungslieferung 2013, Rn. 47 zu § 43 SGB VI). Hier genügt jedenfalls die Bezeichnung von Arbeitsfeldern wie Prüfer, Montierer oder Verpacker von Kleinteilen (Niesel in Kasseler Kommentar, Ran 117 zu § 240 SGB VI; BSG, Urteil vom 19. August 1997 - 13 RJ 57/96 - in juris).

Der Senat hat hier ersthafte Zweifel, dass die Versicherte mit dem ihr verbliebenen Leistungsvermögen in einem Betrieb einsetzbar ist. Angesichts folgender qualitativer Leistungseinschränkungen:

nicht im festgelegten Arbeitsrhythmus
nicht an laufenden Maschinen
ohne Heben und Tragen von Lasten linksseitig
nicht in Wechselschicht
ohne Arbeiten, die besondere Anforderungen an die Fingergeschicklichkeit stellen
bei beeinträchtigtem Reaktionsvermögen und
unter Berücksichtigung einer Gesichtsfeldeinschränkung rechts mit daraus folgender Beeinträchtigung des räumlichen Sehens

sind der Klägerin Arbeitsfelder des allgemeinen Arbeitsmarktes wie Zureichen, Abnehmen, Transportieren, Reinigen, Bedienen von Maschinen, Kleben, Sortieren, Verpacken, Zusammensetzen von Teilen verschlossen (vgl. Das Urteil des BSG vom 09. Mai 2012 – B 5 R 68/11 R – in juris) bzw. dürften nur ihr nur schwer zugänglich sein.

Bei der Klägerin liegt zumindest eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen vor. Diese sind darin zu sehen, dass die Klägerin linksseitig keine Lasten mehr heben und tragen kann, nicht an laufenden Maschinen arbeiten kann und sowohl die Fingergeschicklichkeit beidseits als auch das Sehvermögen und das Reaktionsvermögen beeinträchtigt sind. Damit ist die Klägerin in mehreren Fähigkeiten (bezogen auf Körperregionen: Kopf sowie Arme/Hände; Sehen, Greifen, Tragen, Reagieren) beeinträchtigt, was in der Zusammenschau (Summe) eine Einsatzfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt bezweifeln lässt.

Die Klägerin ist auch nicht mehr in der Lage, die von der Beklagten benannte Tätigkeit einer Telefonistin zu verrichten. Ohne dass ein detailliertes Anforderungsprofil vorläge, ist festzustellen, dass diese Tätigkeit u. a. ein Maß an psychischer Belastbarkeit erfordert, über welches die Klägerin nicht (mehr) verfügt. Sie kann lediglich noch geistig einfache Arbeiten ohne Zeitdruck verrichten. Darüber hinaus ist ihr Reaktionsvermögen eingeschränkt.

Weitere Verweisungstätigkeiten sind nicht ersichtlich, so dass der Klägerin Rente wegen voller Erwerbsminderung zuzusprechen war. Die Kombination von Leistungseinschränkungen, die hier eine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen zur Folge hat, ist seit dem Zeitpunkt der Untersuchung durch Dr. G am 19. November 2012 nachgewiesen. Soweit bereits der Reha-Entlassungsbericht vom 15. November 2012 ein quantitativ vermindertes Leistungsvermögen für die letzte berufliche Tätigkeit ausweist, resultiert hieraus kein früherer Leistungsfall. Denn erst mit der Untersuchung durch Dr. G ist die Vielzahl und Reichweite der jetzt festgestellten Leistungseinschränkungen dokumentiert worden.

Soweit die Klägerin die Auffassung vertritt, der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung sei bereits bei Rentenantragstellung eingetreten gewesen, kann dem im Hinblick auf die Vielzahl vorliegender medizinsicher Gutachten, die dies anders beurteilt haben, nicht gefolgt werden.

Die Klägerin kann auch keine Rente wegen Erwerbsminderung bei Berufsunfähigkeit (§ 240 SGB VI) ab dem 01. September 2008 beanspruchen, denn zwar hat sie einen Beruf erlernt (Zahntechnikerin), sich von diesem jedoch gelöst und bereits langjährig Bürotätigkeiten verrichtet. Eine Lösung aus gesundheitlichen Gründen (und damit der Erhalt des Berufsschutzes) ist angesichts der Tatsache, dass sie nach Auflösung der Betriebspoliklinik der Druckereien und Verlage nur noch kurzfristig jeweils als Zahntechnikerin beschäftigt war und die Arbeitsverhältnisse nach Lage der Akten nicht ausschließlich aus gesundheitlichen Gründen gelöst wurden, nicht nachgewiesen.

Die Rente wegen voller Erwerbsminderung war gemäß § 102 Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB VI auf drei Jahre zu befristen. Ein Fall des § 102 Abs. 2 Satz 5 SGB VI liegt nicht vor.

Die Rente beginnt gemäß § 101 Abs. 1 SGB VI am 01. Juni 2013 und endet gemäß § 102 Abs. 2 Satz 2 SGB VI am 31. Mai 2016.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und berücksichtigt den teilweisen Erfolg der Klage bzw. Berufung.

Gründe für die Zulassung der Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG liegen nicht vor.