Gericht | SG Potsdam 21. Kammer | Entscheidungsdatum | 22.10.2014 | |
---|---|---|---|---|
Aktenzeichen | S 21 AS 1110/14 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 48 Abs 1 S 2 Nr 4 SGB 10, §§ 104ff SGB 10, § 107 SGB 10 |
Keine Rückforderung von SGB II-Leistungen vom Leistungsempfänger gem. § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 X aufgrund einer rückwirkend bewilligten Erwerbsminderungsrente, wenn der Rententräger trotz angemeldeten Erstattungsanspruchs des Jobcenters die Nachzahlung an die Leistungsempfängerin auskehrt.
1. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 07. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. April 2014 wird teilweise hinsichtlich der Monate August 2012 bis Oktober 2013 aufgehoben und die Erstattungssumme für den Monat November 2013 auf insgesamt 528,15 € reduziert.
2. Der Beklagte hat der Klägerin ihre notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Die Klägerin wendet sich gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten, mit dem dieser Leistungen der Grundsicherung nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) aufgrund einer Nachzahlung aus einer Rente zurückfordert.
Die Klägerin stand seit 2007 im Leistungsbezug des Beklagten. Sie stellte im Juni 2009 einen Antrag auf Erwerbsminderungsrente bei der Beigeladenen. Gleichzeitig meldete der Beklagte Anfang Juli 2009 bei der Beigeladenen einen Erstattungsanspruch an. Der Beklagte bewilligte in der Folgezeit der Klägerin Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II, und zwar für den Zeitraum Juni bis November 2012 mit vorläufigem Bewilligungsbescheid vom 10. Mai 2012, ersetzt durch endgültigen Bescheid vom 14. Juni 2012 mit Leistungen in Höhe von monatlich 715,79 Euro, für September 2012 in der Fassung des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 19. November 2012 in Höhe von 555,68 Euro, für den Zeitraum Dezember 2012 bis Mai 2013 mit Bewilligungsbescheid vom 19. Oktober 2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 19. November 2011 in der Fassung vom 24. November 2012 in Höhe von monatlich 715,79 Euro und für den Zeitraum von Juni 2013 bis November 2013 mit Bewilligungsbescheid vom 13. Mai 2013 in Höhe von 723,79 Euro.
Mit gerichtlichem Vergleich im Rahmen des Klageverfahrens zur Rente schlossen die Beigeladene und die Klägerin einen Vergleich, mit dem sich die Beigeladene zur rückwirkenden Rentenbewilligung ab 1. August 2012 bereit erklärte. Mit Rentenbescheid vom 4. November 2013 bewilligte die Beigeladene der Klägerin für den Zeitraum ab 1. August 2012 eine monatliche Rente von netto 693,02 Euro, ab 01. Januar 2013 in Höhe von netto 692,25 Euro und ab 1. Juli 2013 in Höhe von monatlich 714,15 Euro und gab an, die monatlich am letzten Tag des Monats fällige Rente erstmals Ende November 2013 auszuzahlen und den Nachzahlbetrag an die Klägerin unverzüglich auszuzahlen. Dabei gab die Beigeladene in dem Mitteilungsschreiben an das beklagte Jobcenter an, dass ein Erstattungsanspruch nicht bestünde. Im Bewilligungsbescheid der Klägerin führte die Beigeladene aus, Ansprüche anderer Stellen auf Erstattung seien bisher nicht bekannt geworden.
Auf dem Konto der Klägerin ging am 4. November 2013 ein Betrag in Höhe von 10685,52 Euro als Nachzahlung sowie am 30. November 2013 ein Betrag von 714,15 Euro als laufende Rente ein.
Nach erfolgter Anhörung hob der Beklagte mit Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 7. Januar 2014 Leistungen der Klägerin vollständig ab 1. August 2012 bis 31. November 2013 auf und stellte einen Betrag von insgesamt 11052,01 Euro unter Benennung der monatlichen Erstattungsbeträge zur Erstattung. Dabei deckelte der Beklagte die Erstattungssumme auf den Betrag, der der monatlichen Rentenleistung entsprechen würde. Zur Begründung führte er aus, die Klägerin habe gewusst oder wissen können, dass der ihr zuerkannte Anspruch durch die Bewilligung der Rente wegen Erwerbsminderung zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen sei. Er stützte seine Entscheidung auf § 48 Abs. 1 S. 2 Ziffer 4 SGB X.
Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 9. April 2014 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte er ergänzend aus, die Klägerin habe mit Stellung der Weiterbewilligungsanträge Merkblätter erhalten, aus denen hervorginge, dass Erwerbsfähigkeit Voraussetzung für die Leistungsbewilligung nach dem SGB II sei. Es sei grob fahrlässig, wenn sie die Informationsmaterialien nicht beachte.
Die Klägerin hat hiergegen am 9. Mai 2014 Klage vor dem Sozialgericht Potsdam erhoben. Sie ist der Ansicht, die Feststellung der nachträglichen Erwerbsunfähigkeit führe nicht dazu, dass die Leistungen der Grundsicherung nach dem SGB II zu Unrecht bewilligt worden seien. Der Beklagte sei außerhalb des Trägerwiderspruchsverfahrens nach § 44 Abs. 1 S. 6 SGB II nicht an die Feststellung des Rentenversicherungsträgers gebunden. Sie trägt vor, sie habe weder positive Kenntnis gehabt, noch wissen können, dass der ihr zuerkannte Anspruch auf SGB II-Leistungen wegfalle. Zudem ist sie der Ansicht, ein Erstattungsanspruch des Beklagten gegenüber dem Beigeladene bestehe auch nach der Gesetzesänderung zu § 40 a, 79 SGB II weiterhin.
Die Klägerin beantragt wörtlich,
den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 07. Januar 2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 09. April 2014 aufzuheben, soweit die Erstattungsforderung für den Monat November 2013 einen Betrag in Höhe von 528,15 € übersteigt.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt. Sie führt aus, die Auszahlung des Nachzahlungsbetrages an die Klägerin sei aufgrund der Auslegung der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) erfolgt (Urteile vom 31.10.2012, AZ: B 13 R 11/11 R und B 13 R 9/12 R), die einen Erstattungsanspruch des Beklagten nach § 103 SGB X ausgeschlossen hätten. Sie sei davon ausgegangen, dass ein Erstattungsanspruch nach § 104 SGB X nicht bestehe. Dies beruhe auf einer Entscheidung der Rentenversicherungsträger aus dem Jahr 2005 über die Einordnung der Erstattung in § 103 SGB X. Erst mit der Gesetzesänderung ab 4. August 2014 sei nunmehr klargestellt, dass ein Erstattungsanspruch des Beklagten bestanden habe. Dieser sei aber aufgrund der Übergangsvorschrift des § 79 SGB X untergegangen, da zwischenzeitlich die Auszahlung der Leistung an die Klägerin innerhalb des in der Übergangsvorschrift festgelegten Zeitraumes erfolgt sei.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, sowie der beigezogenen Verwaltungsakten zu Aktenzeichen: BG und der Rentenakte des Beigeladenen zu Versicherungsnummer ergänzend Bezug genommen.
1) Die Klage hat Erfolg. Sie ist als Anfechtungsklage gem. § 54 Abs. 1 Alt. 1 SGG zulässig. Der Klageantrag war nach dem Begehren der Klägerin entsprechend auszulegen, dass der Erstattungsbetrag sich insgesamt auf 528,15 Euro reduziert.
a) Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid ist bezüglich des Zeitraumes August 2012 bis Oktober 2013 rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Ziffer 4 SGB X i.V.m. § 40 Abs. 2 Ziffer 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 S. 1 SGB III liegen nicht vor.
Danach ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufzuheben, soweit der Betroffene wusste oder nicht wusste, weil er die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat, dass der sich aus dem Verwaltungsakt ergebende Anspruch kraft Gesetzes zum Ruhen gekommen oder ganz oder teilweise weggefallen ist.
Zwar hat die Klägerin hier rückwirkend ab 1. August 2012 eine Rente wegen voller Erwerbsunfähigkeit auf Dauer zugesprochen bekommen, die ihre Erwerbsunfähigkeit ab diesem Zeitpunkt mit dem Rentenbescheid vom 4. November 2013 ab dessen Bekanntgabe feststellt. Damit ist eine Änderung in den Verhältnissen der Klägerin eingetreten, die unstreitig gem. § 48 Abs. 1 S. 1 SGB X zum Wegfall des Leistungsanspruchs für die Zukunft führt.
Der Rücknahme für die Vergangenheit nach § 48 Abs. 1 S. 2 Ziffer 4 SGB X steht jedoch § 107 SGB X entgegen.
Gem. § 107 SGB X gilt der Anspruch des (Sozialleistungs-)Berechtigten gegen den zur Leistung verpflichteten Leistungsträger als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch besteht.
Der Beklagte hat grundsätzlich einen Anspruch nach § 104 SGB X gegen die Beigeladene. Danach ist der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte, soweit der Leistungsträger nicht bereits selbst geleistet hat, bevor er von der Leistung des anderen Leistungsträgers Kenntnis erlangt hat, wenn der nachrangig verpflichtete Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen von § 103 Abs. 1 vorliegen. Dies ist hier der Fall. Der Beklagte hatte den Erstattungsanspruch auch bereits im Jahre 2009 bei der Beigeladenen angemeldet. Daher hat die Beigeladene nicht in Unkenntnis des Erstattungsanspruches an die Klägerin gezahlt. Ob der Erstattungsanspruch des Beklagten, der seit dem 4. August 2014 in § 40 a SGB II verankert ist, über § 79 SGB II erloschen ist, hatte die Kammer vorliegend nicht zu prüfen und entscheiden. Für die Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Aufhebungsentscheidung des Beklagten nach § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X kommt es allein auf die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X an.
Das BSG hat hierzu in seinem Urteil vom 30. Juni 1997, AZ: 8 RKn 28/95 (SozR 3-2600 § 93 Nr 4, SozR 3-1300 § 45 Nr 35) ausgeführt:
„Einer Rücknahme oder Aufhebung nach §§ 45 bzw 48 SGB X steht die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X schlechthin entgegen (vgl Senatsurteil vom 29. April 1997 aaO; so auch für den Erstattungsanspruch nach § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X: Urteil des 7. Senats vom 31. Oktober 1991 - 7 RAr 46/90 -, insoweit nicht veröffentlicht). Der Anspruch der Klägerin gegen den zur Leistung verpflichteten Unfallversicherungsträger gilt nach § 107 Abs 1 SGB X als erfüllt, soweit ein Erstattungsanspruch - wie dargelegt - besteht. Damit wird sie behandelt, als ob sie die Rentenleistung bereits erhalten hätte. Die Erfüllungsfiktion soll die Rückabwicklung zwischen vorleistendem Träger und Berechtigtem ausschließen. Damit hat der Gesetzgeber aus Gründen der Rechtsklarheit und der Verwaltungsökonomie eine unkomplizierte und im Rahmen des Sozialleistungsrechts einheitliche Form des Ausgleichs von Leistungsbewilligungen geschaffen (vgls Senatsurteil vom 29. April 1997 aaO mwN). Ist aber in diesem Umfang durch die Leistungserbringung ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen die BG entstanden, der wegen § 107 Abs. 1 SGB X von der Rechtsordnung vorgesehen, mithin rechtmäßig ist, können die Voraussetzungen von § 45 Abs. 1 SGB X nicht erfüllt sein.
Der Anspruch gilt nach § 107 SGB X als erfüllt unabhängig davon, dass ein solcher Erstattungsanspruch geltend gemacht worden ist, noch einen solchen Anspruch erfüllt hat. Zweck des § 107 SGB X ist es, im materiellen Leistungsrecht nicht vorgesehene Doppelleistungen auszuschließen. Diese Wirkung muss unabhängig davon eintreten, dass im Einzelfall im Verhältnis der beteiligten Leistungsträger untereinander ein Erstattungsanspruch nach §§ 102 ff SGB X nicht befriedigt wird (vgl. BSG, Urteil vom 07. August 1986, AZ: 4a RJ 33/85, juris). Gleiches muss gelten für die Auszahlung der Nachzahlung an die Klägerin trotz angemeldeten Erstattungsanspruchs.
Auf eine Verschuldensprüfung im Rahmen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 4 SGB X kommt es daher nicht mehr an. Fraglich wäre insofern nicht nur der Zeitpunkt der Kenntnis, auf den abgestellt werden soll, sondern auch auf welche Leistung nach dem SGB II. Die Klägerin ist so gestellt worden, als sei die Leistung nach dem SGB II die nunmehr festgestellte Rentenleistung.
Ob darüber hinaus aufgrund der Doppeltzahlung der Rentenleistung möglicherweise ein Anspruch der Beigeladenen auf Rückforderung gegenüber der Klägerin besteht, ist für diese Entscheidung unerheblich.
b) Für den Monat November 2013 liegen die Voraussetzungen des § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB II i.V.m. § 40 Abs. 2 Ziffer 3 SGB II i.V.m. § 330 Abs. 3 S. 1 SGB III vor.
Die Leistung des Beklagten an die Klägerin für den Monat November 2013 war bereits zum Ende des Monats Oktober 2013 bewirkt, damit vor der Mitteilung vom Wegfall der Voraussetzungen für den Leistungsbezug. Die Anfang November 2013 erhaltene Nachzahlung aus der Rentenversicherung und die erstmalige Zahlung der Rente Ende November 2013 von der Beigeladenen an die Klägerin war insgesamt als laufendes Einkommen im Monat Oktober 2013 anzurechnen. Laufende Einnahmen sind solche, die auf demselben Rechtsgrund beruhen und regelmäßig erbracht werden, bei einmaligen Einnahmen erschöpft sich das Geschehen in einer einzigen Leistung. Eine - hier neben der nachträglichen - einmalige Erbringung einer an sich laufenden Einnahme ändert deren Qualifizierung grundsätzlich nicht (vgl BSG, Urteil vom 16. Mai 2012 – B 4 AS 154/11 R –, SozR 4-1300 § 33 Nr 1 mit Verweis auf BSG Urteil vom 7.5.2009 - B 14 AS 4/08 R - RdNr 21 <Übergangsgeld>; BSG Urteil vom 21.12.2009 - B 14 AS 46/08 R - RdNr 14 <Arbeitslosenhilfe>; Striebinger in Gagel, SGB II/SGB III, § 11 SGB II, RdNr 40, Stand Januar 2012).
Mit der Zahlung von 11.399,67 Euro im November 2013 war der Leistungsanspruch der Klägerin ganz entfallen, § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB X.
Allerdings war die Erstattungssumme gem. § 40 Abs. 4 S. 1 SGB II auf 44 Prozent der zu berücksichtigenden Bedarfe für Kosten der Unterkunft zu beschränken. Hier hatte der Beklagte im maßgeblichen Bewilligungsbescheid vom 13. Mai 2013 341,79 Euro angesetzt, so dass die Erstattungssumme sich auf insgesamt 528,15 Euro (382 Euro zuzüglich 146,15 Euro für Kosten der Unterkunft und Heizung) beläuft.
2) Die Kostenentscheidung beruht auf § 183 SGG. Die Umstellung der Klage auf eine teilweise Aufhebung der Bescheide hatte kostenrechtlich aufgrund der geringen Quote des Unterliegens keine Auswirkung auf die Kostenentscheidung.