Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat | Entscheidungsdatum | 20.08.2014 | |
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Aktenzeichen | OVG 6 B 12.13 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 102 Abs 2 VwGO, § 24 SGB 8, § 86 Abs 2 S 2 SGB 8, § 86 Abs 5 S 2 SGB 8, § 86d SGB 8, § 89c Abs 1 S 2 SGB 8, § 102 SGB 10 |
Die Inanspruchnahme der Betreuung einer anderen Kindertageseinrichtung am neuen Wohnort stellt sich bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung nicht als Fortsetzung der Betreuung in der Kindertageseinrichtung des bisherigen Wohnorts dar (Anschluss an: VGH München, Beschluss vom 23. April 2014 - 12 ZB 14.26 -, Rn. 11 bei juris).
Auf die Berufung des Beklagten wird das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. Juni 2013 geändert.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten beider Rechtszüge.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Klägerin darf die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Beteiligten streiten als öffentliche Jugendhilfeträger um Kostenerstattung.
Die Klägerin verlangt von der Beklagten die Zahlung von insgesamt 12.607,22 Euro nebst Zinsen für die Betreuung zweier minderjähriger Kinder, die gemeinsam mit ihrer allein erziehenden Mutter von Berlin, wo die Kinder ebenfalls in einer Kindertagesstätte bzw. in einem Hort betreut worden waren, am 16. Juli 2009 nach Hannover gezogen sind, wo die Kinder ab dem 1. August 2009 halbtäglich bzw. dreivierteltäglich im Hort bzw. in einer Kindertagesstätte auf Kosten der Klägerin betreut wurden.
Der auf Zahlung des genannten Betrages gerichteten Klage hat das Verwaltungsgericht mit Urteil vom 25. Juni 2013 stattgegeben und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin könne Kostenerstattung nach § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII und § 102 SGB X verlangen. Die Betreuung der beiden Kinder in einem Hort bzw. einer Kindertagesstätte sei eine Leistung der Jugendhilfe. Die zeitlich nahezu unterbrechungslose Betreuung in Einrichtungen in Berlin bzw. Hannover sei jeweils als einheitlicher Hilfefall anzusehen und habe entsprechend der Regelung in § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII nicht zu einem Zuständigkeitswechsel vom Beklagten auf die Klägerin geführt. Hier hätten beide Elternteile die gemeinsame Personensorge und bis zum Umzug von Mutter und Kindern nach Hannover in Berlin, also im Zuständigkeitsbereich des Beklagten gelebt, so dass der Umzug nach Hannover nicht zu einem Zuständigkeitswechsel geführt habe.
Hiergegen wendet sich der Beklagte mit der vom Verwaltungsgericht zugelassenen Berufung. Er macht im Wesentlichen geltend, durch die Beendigung der Betreuungsleistungen in Berlin und den Umzug nach Hannover und Aufnahme von Betreuungsleistungen dort habe ein Zuständigkeitswechsel stattgefunden, der einen Erstattungsanspruch ausschließe.
Der Beklagte und Berufungskläger beantragt,
das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 25. Juni 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin und Berufungsbeklagte hat schriftsätzlich beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angefochtene Urteil.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der Verwaltungsvorgänge der Beteiligten verwiesen, die vorgelegen haben und Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind.
I. Der Senat konnte trotz Ausbleibens der Klägerin in der mündlichen Verhandlung entscheiden, weil diese in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war (§ 102 Abs. 2 VwGO).
II. Die zulässige Berufung des Beklagten ist begründet. Das Verwaltungsgericht hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die Klägerin kann von der Beklagten nicht Erstattung für die ihr durch die Betreuung der beiden Kinder in ihren Kindertageseinrichtungen entstandenen Kosten verlangen.
1. Die Voraussetzungen eines Anspruchs nach § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII liegen entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nicht vor. Nach dieser Vorschrift sind Kosten, die ein örtlicher Träger im Rahmen seiner Verpflichtung nach § 86d SGB VIII aufgewendet hat, von dem örtlichen Träger zu erstatten, dessen Zuständigkeit durch den gewöhnlichen Aufenthalt nach §§ 86, 86a und 86b SGB VIII begründet wird.
Vorliegend hat der Beklagte durch die Betreuung der beiden Kinder in Kindertageseinrichtungen bis zu deren Umzug nach Hannover Leistungen der Jugendhilfe im Sinne des § 24 SGB VIII unstreitig in eigener Zuständigkeit erbracht. Damit die Klägerin von dem Beklagten Erstattung der streitigen Kosten für die Kindertagesbetreuung auf der Grundlage des § 89c Abs. 1 Satz 2 SGB VIII verlangen kann, müsste die Zuständigkeit zur Erbringung von Jugendhilfeleistungen nach § 24 SGB VIII auch nach dem Umzug der Kinder mit ihrer Mutter nach Hannover in den Zuständigkeitsbereich der Klägerin fortbestanden haben. Daran fehlt es. Vielmehr war die Klägerin ab August 2009 selbst örtlich zuständig, die in Rede stehenden Leistungen zu erbringen; sie kann dementsprechend nicht mit Erfolg geltend machen, dass sie nach § 86d SGB VIII vorläufige Leistungen erbracht hat, weil der hierfür zuständige Beklagte nicht tätig geworden sei.
Die Betreuung der beiden Kinder in einer Kindertagesstätte bzw. im Hort stellt gegenüber dem vor dem Umzug erfolgten Kindertagesstätten- bzw. Hortbesuch in Berlin eine zuständigkeitsrechtlich neue Leistung dar. Daher ist für die Bestimmung der Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers für die Übernahme der dafür erhobenen Teilnahmebeiträge § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII einschlägig. Nach dieser Vorschrift richtet sich die Zuständigkeit nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, wenn die Personensorge den Eltern gemeinsam zusteht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Die Personensorge steht beiden Eltern gemeinsam zu, ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben sie vor dem Besuch der Kindertagesbetreuungseinrichtungen der Klägerin jedoch allein bei ihrer Mutter in Hannover begründet. § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII, welcher voraussetzt, dass die Eltern, denen die Personensorge für das Kind gemeinsam zusteht, erst nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte begründen, ist für die Zuständigkeitsbestimmung im vorliegenden Verfahren entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts dagegen nicht einschlägig. Die Betreuung der beiden Kinder in den Einrichtungen der Klägerin stellt keine Fortsetzung der bereits in den Einrichtungen des Beklagten begonnenen Jugendhilfeleistung dar.
Ob eine einheitliche Leistung vorliegt, ist nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu bestimmen. Hierunter fallen alle zur Deckung eines qualitativ unveränderten, kontinuierliche Hilfe gebietenden jugendhilferechtlichen Bedarfs erforderlichen Maßnahmen und Hilfen, sofern sie ohne Unterbrechung gewährt worden sind (BVerwG, Urteil vom 13. Dezember 2012 - 5 C 25/11 -, BVerwGE 145, 257 ff., Rn. 17 bei juris). Allerdings endet die Zuständigkeit des früheren Trägers dann, wenn die Leistung eingestellt und eine zuständigkeitsrechtlich neue Leistung gewährt wird (BVerwG, Urteil vom 19. Oktober 2011, - 5 C 25/10 -, BVerwGE 141, 77 ff., Rn. 37 bei juris). Eine einheitliche Leistung liegt nur dann vor, wenn sich die Hilfegewährung ungeachtet aller Modifikationen und Änderungen noch als Fortsetzung der ursprünglichen Hilfemaßnahme darstellt und nicht der Deckung eines andersartigen Bedarfs dient (BVerwG, Urteil vom 29. Januar 2004, - 5 C 9/03 -, BVerwGE 120, 116 ff., Rn. 27 bei juris).
Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe war die Betreuung der beiden Kinder im Zuständigkeitsbereich des Beklagten mit deren Abmeldung formell und materiell beendet und die insoweit begonnene Leistung damit eingestellt. Wenn sich, wie im vorliegenden Fall, die Eltern eines Kindes trennen und ein Elternteil mit dem Kind an einen anderen Ort umzieht, weshalb der bisherige Kinderbetreuungsplatz gekündigt wird und nach erfolgtem Umzug eine neue Anmeldung in einer Kindertageseinrichtung am neuen Wohnort vorgenommen wird, stellt dies eine gravierende Veränderung der Lebensumstände dar, die eine neue Entscheidung über die konkrete Deckung des Betreuungsbedarf erfordert. Denn der Wohnortwechsel wird regelmäßig mit einem erheblichen Wechsel der konkreten Lebensumstände und des konkreten Betreuungsbedarfs einhergehen. Das betrifft zum einen die beruflichen, sozialen und wirtschaftlichen Lebensumstände der Eltern, aber auch die familiäre Situation allgemein sowie die konkrete Betreuungssituation vor Ort, die erhebliche qualitative Unterschiede sowie erhebliche Unterschiede in der pädagogischen Ausrichtung und den konkreten Betreuungsangeboten in zeitlicher und inhaltlicher Hinsicht haben kann. Daher besteht in diesem Zusammenhang auch kein Bedarf an einem Fortbestand der ursprünglichen örtlichen Zuständigkeit des Jugendhilfeträgers, auf den die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum einheitlichen Leistungsbegriff gerade abstellt (BVerwG, Urteil vom 29. Januar 2004, a.a.O., Rn. 18 bei juris). Für diese Auffassung spricht weiter, dass der durch die fragliche Jugendhilfeleistung nach § 24 SGB VIII gedeckte Hilfebedarf praktisch dann besteht, wenn die betreffenden sorgeberechtigten Eltern sich entschließen, ihn in Anspruch zu nehmen. Es obliegt allein der Entscheidung der Eltern bzw. des allein erziehenden Elternteils, ob und in welchem Umfang ein Kind in einer Kindertageseinrichtung oder im Rahmen der Kindertagespflege betreut wird. Bei derartigen Leistungen handelt es sich, wie sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 3 SGB VIII und aus § 24 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ergibt, um Angebote. Ein solches Angebot können die Eltern annehmen, sie müssen dies aber nicht. Insofern unterscheidet sich der Hilfebedarf nach § 24 SGB VIII von anderen Leistungen im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe, wie etwa Hilfen zur Erziehung oder einer Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII, für deren Erbringung ein Hilfeplan im Sinne von § 36 SGB VIII erstellt wird, der unter Beteiligung der Eltern, der Kinder und des Jugendhilfeträgers erarbeitet wird. Der Gesichtspunkt der Kontinuität einer bedarfsgerechten Hilfegewährung hat daher bei der Kindertagesbetreuung geringeres Gewicht als bei der regelmäßig auf längere Zeit angelegten Hilfe zur Erziehung (VG Schleswig, Urteil vom 27. Mai 2010 - 15 A 120/09 -, EuG 2012, S. 288 ff., Rn. 29 bei juris). Es bleibt daher auch allein den Eltern überlassen die Leistung zu beenden, wenn sie dies möchten (VG Würzburg, Beschluss vom 25. Oktober 2012 - W 3 E 12.877 -, Rn. 18 bei juris). Das Interesse an einer ortsnahen Betreuungsmöglichkeit entsteht demnach durch jeden Wechsel des gewöhnlichen Aufenthaltes grundsätzlich neu. Die Inanspruchnahme der Betreuung einer anderen Kindertageseinrichtung am neuen Wohnort stellt sich deshalb bei der erforderlichen Gesamtbetrachtung nicht als Fortsetzung der Betreuung in der Kindertageseinrichtung des bisherigen Wohnorts dar (VGH München, Beschluss vom 23. April 2014 - 12 ZB 14.26 -, Rn. 11 bei juris).
Der Umstand, dass das Bundesverwaltungsgericht auch eine Betreuung in Kindertagesstätten für fortsetzungsfähig erachtet und eine einheitliche Leistungsgewährung in einem Fall bejaht hat, in dem eine Mutter umgezogen und damit den Zuständigkeitsbereich der Jugendhilfeträger gewechselt hatte (BVerwG, Urteil vom 14. November 2002 - 5 C 57/01 - BVerwGE 117, 184 ff.), rechtfertigt keine andere Betrachtung. In jenem Fall war die Betreuung des Kindes weiterhin in derselben Einrichtung geleistet worden, weshalb die dieser Entscheidung zu Grunde liegende Konstellation mit der hiesigen nicht vergleichbar ist.
2. Ein Erstattungsanspruch ergibt sich auch nicht aus § 102 SGB X. Nach dieser Vorschrift ist ein zur Leistung verpflichteter Leistungsträger erstattungspflichtig, wenn er aufgrund gesetzlicher Vorschriften vorläufig Sozialleistungen erbracht hat. Der Anspruch scheitert jedenfalls daran, dass die Klägerin nicht im Sinne dieser Vorschrift „in Vorleistung getreten“ ist; vielmehr hat sie aus den unter 1. dargelegten Gründen die Betreuungsleistungen in eigener Zuständigkeit erbracht.
III. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 10, § 711 der Zivilprozessordnung.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil keiner der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Gründe vorliegt.