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Protonentherapie - Kraniopharyngiom - Folgenabwägung im vorläufigen Rechtsschutzverfahren


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 9. Senat Entscheidungsdatum 22.03.2013
Aktenzeichen L 9 KR 62/13 B ER ECLI
Dokumententyp Beschluss Verfahrensgang -
Normen § 27 Abs 1 SGB 5, § 135 Abs 1 SGB 5, § 135 Abs 2 SGB 5, § 135 Abs 1a SGB 5

Tenor

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 01. Februar 2013 wird zurückgewiesen.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin ihre außergerichtlichen Kosten des Beschwerdeverfahrens zu erstatten.

Gründe

Die Beschwerde der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Sozialgerichts Potsdam vom 01. Februar 2013 ist gemäß §§ 172 Abs. 1, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig, aber unbegründet. Die Entscheidung des Sozialgerichts, die Antragsgegnerin im Wege einstweiliger Anordnung zu verpflichten, die Antragstellerin bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache mit einer ambulant durchzuführenden Protonentherapie im R Proton Therapie Center in M zu versorgen, lässt keine Rechtsfehler erkennen.

1.) Nach § 86b Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn eine solche Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Das ist grundsätzlich dann der Fall, wenn der Antragsteller einen Anordnungsanspruch und einen auf einem eiligen Regelungsbedürfnis fußenden Anordnungsgrund mit der für die Vorwegnahme der Hauptsache erforderlichen hohen Wahrscheinlichkeit für ein Obsiegen in der Hauptsache glaubhaft machen kann (§ 86b Abs. 2 Sätze 2 und 4 SGG i.V.m. § 920 Abs. 2 Zivilprozessordnung [ZPO]).

2.) Der Antragsgegnerin ist darin zu folgen, dass zum jetzigen Zeitpunkt ohne weitere Ermittlungen nicht abschließend geklärt ist, ob die Antragstellerin die streitgegenständliche Behandlung nach § 27 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 1 SGB V i.V.m. §§ 135 Abs. 1 und 2 Abs. 1a SGB V von ihr verlangen kann, weil diese ambulante ärztliche Behandlung für die bei der Antragstellerin festgestellte Erkrankung an einem (rezidivierenden) Kraniopharyngiom im Rechtssinne neu ist, für ihre Erbringung keine Empfehlungen des Gemeinsamen Bundesausschusses nach § 135 Abs. 1 SGB V vorliegen und die Behandlung durch Ärzte erbracht werden soll, die ausweislich der dem Senat zur Verfügung stehenden Informationen zur Erbringung von Leistungen der ambulanten Strahlentherapie weder zugelassen noch ermächtigt sind. Soweit die Leistungspflicht der Antragsgegnerin im vorliegenden Fall von der Antragstellerin aus § 2 Abs. 1a SGB V hergeleitet wird, steht derzeit jedenfalls nicht fest, ob für die Erkrankung der Antragstellerin eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung (nicht) zur Verfügung steht. Die Antragsgegnerin stützt ihre Ablehnung der von der Antragstellerin begehrten ambulanten Behandlung (Bescheid vom 21. April 2011 sowie Widerspruchsbescheid vom 01. September 2011) vor allem auf eine Stellungnahme des MDK Bayern vom 19. Mai 2011(Dr. S), in der der MDK in der bei der Antragstellerin gegebenen Rezidivsituation als adjuvante Therapie eine Strahlentherapie mit Photonen in Form einer konventionell fraktionierten Bestrahlung, einer hypofraktionierten Bestrahlung oder einer Einzeitbestrahlung (Radiochirugie) für indiziert hält. Dafür stützt sich der MDK Bayern auf eine Würdigung der aktuellen Literatur, nach der die häufigsten radiochirurgischen Behandlungen von Kraniopharyngiomen bisher mit dem Gamma Knife System erfolgt seien. Die Behandlungsergebnisse würden insgesamt als positiv bewertet und zeigten, dass die Radiochirurgie eine effektive Therapiemaßnahme zur Wachstumskontrolle von Kraniopharyngiomen darstellen könne und in der Rezidivsituation oder bei Inoperabilität des Tumors indiziert sei. Bei einer Literaturrecherche zu den Stichworten „Kraniopharyngiom“ und „Radiochirurgie“ hätten sich 135 Zitierungen, für die Stichworte „Kraniopharyngiom“ und „Protonentherapie“ dagegen nur 2 Zitierungen finden lassen, die zudem eine Überlegenheit der Protonentherapie gegenüber der modernen Photonentherapie bei der Behandlung von Kraniopharyngiomen nicht hätten belegen können.

Diese Stellungnahme ist nicht geeignet, den Senat davon zu überzeugen, dass die Gewährung einer ambulanten Protonentherapie für die Antragstellerin nach § 2 Abs. 1a SGB V schlechthin ausgeschlossen ist. Denn sie lässt die nach § 2 Abs. 1a SGB V erforderliche eingehende medizinische Auseinandersetzung mit dem Einzelfall der Antragstellerin vermissen. Sie stützt sich zur Begründung der Bejahung einer Indikation radiochirurgischer Verfahren im Wesentlichen nur auf allgemeine statistische Erwägungen, ohne die von den behandelnden Ärzten aufgeworfenen Bedenken gegen eine Photonentherapie (Gefahr von Strahlenschäden für Hypophyse, Sehnerven einschließlich chiasma opticum als limitierende Faktoren einer Bestrahlung) auch nur ansatzweise inhaltlich zu erörtern. Dass Therapiestrategien bei rezidivierenden Kraniopharyngiomen in der Forschung kontrovers diskutiert werden und mangels fundierter Daten aus prospektiven, kontrollierten Studien keine Vorgabe einer bestimmten Therapiestrategie möglich sei, ist auch der Tenor der noch gültigen S 1 Leitlinie „Kraniopharyngiom im Kindes- und Jugendalter“ der Deutschen Krebsgesellschaft und der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (AWF-Leitlinien-Register Nr. 025/026, Stand 07/2008). Auch wenn die jetzt 26-jährige Antragstellerin nicht mehr zum Personenkreis der Kinder oder Jugendlichen gehört, ist bei ihr die Erkrankung seit dem 3. Lebensjahr bekannt, so dass die Aussagen der Leitlinien auch für sie im Hinblick auf eine mögliche Therapiestrategie nicht unbeachtlich sein dürften. Im Ergebnis kommt die Leitlinie unter Ziffer 5. zu dem Ergebnis, dass die Entscheidung über die Therapie im Einzelfall – genau darum geht es in Fällen nach § 2 Abs. 1a SGB V – gerade bei kontrovers diskutierten Konstellationen einem multidisziplinären, erfahrenen Team obliegen sollte. Dies bestätigt hinreichend, dass dem Senat keine ausreichenden medizinischen Erkenntnisse für die Feststellung vorliegen, ob es für Fälle wie den vorliegenden eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung gibt.

3.) In Fällen wie dem vorliegenden dürfen sich die Sozialgerichte bei der Prüfung des Anordnungsanspruchs in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, in denen Leistungsansprüche eines Versicherten gegen eine gesetzliche Krankenkasse streitig sind, nicht schlechthin auf die summarische Prüfung der Erfolgsaussichten eines Rechtsbehelfes im Hauptsacheverfahren beschränken. Drohen dem Versicherten ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre, verlangt Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG von den Sozialgerichten bei der Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache grundsätzlich eine eingehende Prüfung der Sach- und Rechtslage, die sich von der im Hauptsa-cheverfahren nicht unterscheidet (vgl. BVerfGE 79, 69 <74>; 94, 166 <216>; NJW 2003, 1236f.). Sind die Sozialgerichte durch eine Vielzahl von anhängigen entscheidungsreifen Rechtsstreitigkeiten belastet oder besteht die Gefahr, dass die dem vorläufigen Rechtsschutzverfahren zu Grunde liegende Beeinträchtigung des Lebens, der Gesundheit oder der körperlichen Unversehrtheit des Versicherten sich jederzeit verwirklichen kann, verbieten sich zeitraubende Ermittlungen im vorläufigen Rechtsschutzverfahren; in diesem Fall, der in der Regel vorliegen wird, hat sich die Entscheidung an einer Abwägung der widerstreitenden Interessen zu orientieren (BVerfG NJW 2003, 1236f.). Dabei ist in Anlehnung an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 32 Bundesverfassungsgerichtsgesetz eine Folgenabwägung vorzunehmen, bei der die Erwägung, wie die Entscheidung in der Hauptsache ausfallen wird, regelmäßig außer Betracht zu bleiben hat. Abzuwägen sind stattdessen die Folgen, die eintreten würden, wenn die Anordnung nicht erginge, obwohl dem Versicherten die streitbefangene Leistung zusteht, gegenüber den Nachteilen, die entstünden, wenn die begehrte Anordnung erlassen würde, obwohl er hierauf keinen Anspruch hat (vgl. hierzu Um-bach/Clemens, Bundesverfassungsgerichtsgesetz, Mitarbeiterkommentar und Handbuch, § 32 Rdnr. 177 mit umfassendem Nachweis zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. NZS 2000, 510 ff.). Hierbei ist insbesondere die in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG durch den Verfassungsgeber getroffene objektive Wertentscheidung zu berücksichtigen. Danach haben alle staatlichen Organe die Pflicht, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Lebens, der Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit zu stellen (vgl. BVerfGE 56, 54 <73>). Für das vorläufige Rechtsschutzverfahren vor den Sozialgerichten bedeutet dies, das diese die Grundrechte der Versicherten auf Leben, Gesundheit und körperliche Unversehrtheit zur Geltung zu bringen haben, ohne dabei die ebenfalls der Sicherung des Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG dienende Pflicht der gesetzlichen Krankenkassen (vgl. insbesondere aus §§ 1, 2 Abs. 1 und 4 SGB V), ihren Versicherten nur wirksame und hinsichtlich der Nebenwirkungen unbedenkliche Leistungen zur Verfügung zu stellen, sowie die verfassungsrechtlich besonders geschützte finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung (vgl. BVerfGE 68, 193 < 218>) aus den Augen zu verlieren. Besteht die Gefahr, dass der Versicherte ohne die Gewährung der umstrittenen Leistung vor Beendigung des Hauptsacheverfahrens stirbt oder er schwere oder irreversible gesundheitliche Beeinträchtigungen erleidet, ist ihm die begehrte Leistung regelmäßig zu gewähren, wenn das Gericht nicht auf Grund eindeutiger Erkenntnisse davon überzeugt ist, dass die begehrte Leistung unwirksam oder medizinisch nicht indiziert ist oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch die Nebenwirkungen der Behandlung auf andere Weise zu verwirklichen. Besteht die Beeinträchtigung des Versicherten dagegen im Wesentlichen nur darin, dass er die begehrte Leistung zu einem späteren Zeitpunkt erhält, ohne dass sie dadurch für ihn grundsätzlich an Wert verliert, weil die Beeinträchtigung der in Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG genannten Rechtsgüter durch eine spätere Leistungsgewährung beseitigt werden kann, dürfen die Sozialgerichte die begehrte Leistung im Rahmen der Folgenabwägung versagen. Nur durch eine an diesen Grundsätzen orientierte Vorgehensweise bei der Folgeabwägung wird dem vom Gesetzgeber in allen Prozessordnungen vorgesehenen Vorrang des nachgehenden Rechtschutzes vor dem vorläufigen Rechtsschutz, sowie dem sich aus Art. 20 Abs. 3 GG abzuleitenden Grundsatz Rechnung getragen, dass die Leistungsgewährung vor Abschluss des Hauptsacheverfahrens die Ausnahme und nicht die Regel sein soll.

4.) Unter Beachtung dieser Grundsätze hat das Sozialgericht rechtsfehlerfrei die Antragsgegnerin vorläufig zur Leistungserbringung verpflichtet: Der Antragstellerin droht bei ungehindertem Fortgang ihrer Erkrankung nach den Befundberichten ihrer behandelnden Augenärztin vom 28. Januar 2012 und den Befundberichten des Klinikums E v B – Klinik für Radioonkologie und Strahlentherapie, Brachytherapie – vom 28. November 2011 und vom 02. Dezember 2012 neben dem Ausfall der Sehfähigkeit des linken Auges auch die Erblindung des rechten Auges zu einem derzeit nicht vorherzusagenden Zeitpunkt. Nach den weiteren Angaben in den Befundberichten wäre eine Besserung der Sehfähigkeit bei der Antragstellerin auch nach einer erfolgreichen Tumorbehandlung nicht vorstellbar. Nach der medizinischen Einschätzung der die Antragstellerin behandelnden Ärzte des Klinikums E v B – Klinik für Radioonkologie und Strahlentherapie, Brachytherapie – sei darüber hinaus eine Erblindung des rechten Auges durch die Verwendung von hochenergetischen Röntgenstrahlen wahrscheinlich; dies mache den Einsatz einer Protonentherapie erforderlich, die nach ihren physikalischen Eigenschaften eine geringere Belastung der benachbarten Organe und Gewebe durch die Bestrahlung mit sich bringe. Dadurch könnten das Auge, der rechte Sehnerv und die angrenzenden Hirnstrukturen geschont werden. Demgegenüber sei bei der Verwendung hochenergetischer Röntgenstrahlen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit mit irreversiblen Beeinträchtigungen nervaler Strukturen zu rechnen.

5.) Die geschilderten Gefahren für die Gesundheit der Antragstellerin und insbesondere für ihre Sehfähigkeit, die sich bei einem ungehinderten Fortgang ihrer Erkrankung mit hoher Wahrscheinlichkeit jederzeit realisieren und bei einen Einsatz hochenergetischer Röntgenstrahlen nicht ausschließen lassen können, lassen eine Verpflichtung der Antragsgegnerin im vorläufigen Rechtsschutzverfahren angezeigt erscheinen; denn die Antragsgegnerin hat – dem MDK Bayern folgend – das Vorliegen der geschilderten gegenwärtigen erheblichen Gefahren für die Gesundheit der Antragstellerin weder widerlegen noch durch ihr Vorbringen auch nur in Zweifel ziehen können. Schließlich ist nach den Ermittlungen des Sozialgerichts auch nicht erkennbar, dass auf Grund eindeutiger Erkenntnisse die Gefahr besteht, dass die begehrte Leistung unwirksam oder ihr Einsatz mit dem Risiko behaftetet ist, die abzuwendende Gefahr durch ihr zukommende Nebenwirkungen auf andere Weise zu verwirklichen. Von den die Antragstellerin behandelnden Radioonkologen wird die Protonentherapie als seit Jahren in der Tumortherapie bewährtes schonendes Verfahren der Strahlentherapie beschrieben; auch dieser medizinischen Einschätzung ist weder der MDK Bayern noch die Antragsgegnerin substantiiert entgegengetreten.

6.) Den erheblichen und schwerwiegenden Gefahren für die Gesundheit und insbesondere die Sehfähigkeit der Antragstellerin stehen bei einer Leistungsverpflichtung der Antragsgegnerin für diese nur geringe Beeinträchtigungen gegenüber: Nach einem Kostenvoranschlag der Chirurgischen Klink Dr. R soll die Behandlung am R Proton Therapie Center insgesamt Kosten von 18.978, 45 € zuzüglich 3.465 € Unterbringungskosten verursachen. Bei einem Kostenvolumen von mutmaßlich ca. 22.500 € und der Tatsache, dass es sich bei dem vorliegenden Fall im Hinblick auf die Seltenheit der Erkrankung (Inzidenz ca. 0,5 bis 2 Fälle pro einer Million Personen pro Jahr in Deutschland, vgl. Müller/Sörensen: Kraniopharyngeom im Kindes- und Jugendalter, Deutsches Ärzteblatt 2006, A 2634 ff.) und ihren schwerwiegenden Verlauf bei der Antragstellerin mit Rezidiven um einen nicht verallgemeinerungsfähigen Einzelfall handelt, ist eine (vorläufige) Verpflichtung der Antragsgegnerin im einstweiligen Rechtsschutzverfahren für diese ohne weiteres hinnehmbar. Zu berücksichtigen ist schließlich, dass die Behandlung am R Proton Therapie Center nicht mit dem hier veranschlagten Pauschalbetrag, sondern bei einer privatärztlichen Behandlung grundsätzlich unter Heranziehung der GOÄ – ggf. in entsprechender Anwendung – vorzunehmen sein wird.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

Dieser Beschluss kann nicht mit der Beschwerde an das Bundessozialgericht angefochten werden (§ 177 SGG).