Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 27. Senat | Entscheidungsdatum | 22.03.2011 | |
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Aktenzeichen | L 27 P 21/09 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 48 SGB 10, § 14 SGB 11, § 37 SGB 11 |
Auf die Berufung der Klägerin werden das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 9. April 2009 sowie der Bescheid der Beklagten vom 25. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2007 aufgehoben.
Die Beklagte hat der Klägerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten des gesamten Verfahrens zu erstatten.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung der Pflegestufe I.
Die 1976 geborene Klägerin ist schwer geistig behindert. Vor Inkrafttreten des Pflegeversicherungsrechts nach dem Sozialgesetzbuch/ Elftes Buch (SGB XI) bezog sie möglicherweise Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch/ Fünftes Buch (SGB V) wegen Schwerpflegebedürftigkeit. Auf Grund eines Gutachtens des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Berlin-Brandenburg e. V. (MDK) vom 4. Juli 1995 wurde vom MDK die Feststellung getroffen, die Klägerin sei erheblich pflegebedürftig, eine Besserung sei nicht zu erwarten. Eine konkrete zeitliche Erfassung des Pflegeaufwandes für die Grundpflege und die hauswirtschaftliche Versorgung erfolgte in diesem Gutachten nicht. Mit Bescheid vom 1. August 1995, der bestandskräftig wurde, stufte der Beklagte die Klägerin mit Wirkung vom 1. April 1995 in die Pflegestufe I ein und gewährte ihr Leistungen.
Am 5. Dezember 2005 erstattete der MDK ein weiteres Gutachten. Darin wurde der Aufwand im Hinblick auf die Grundpflege mit durchschnittlich zwei Minuten täglich und im Hinblick auf die hauswirtschaftliche Versorgung durchschnittlich 45 Minuten täglich bemessen. In einem Gutachten des MDK vom 20. März 2006 ergab sich ein Grundpflegeaufwand von 33 Minuten täglich und ein Aufwand für die hauswirtschaftliche Versorgung von 45 Minuten täglich. Das Gutachten betonte, der Zustand der Klägerin und der entsprechende Hilfebedarf sei über Jahre unverändert. Ein Besserungsnachweis sein insofern nicht führbar.
Mit Bescheid vom 25. April 2006 hob die Beklagte den Bescheid vom 1. August 1995 zum 30. April 2006 gestützt auf die vorgenannte MDK- Begutachtung vom 20. März 2006 auf. Im anschließenden Widerspruchsverfahren erstattete der MDK am 27. September 2007 ein weiteres Gutachten. Darin bestätigte er die Einschätzung, die Voraussetzungen für die Pflegestufe I seien nicht erfüllt. Hierauf gestützt wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Oktober 2007 den Widerspruch zurück.
Die hiergegen erhobene Klage hat das Sozialgericht Potsdam nach Beiziehung von Befundberichten der behandelnden Ärzte mit Urteil vom 9. April 2009 abgewiesen: Die angefochtenen Bescheide seien rechtmäßig, denn die Bewilligung vom 1. August 1995 sei wegen wesentlicher Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse nach § 48 Sozialgesetzbuch/ Zehntes Buch (SGB X) aufzuheben gewesen. Nach den Feststellungen des Gutachtens vom 4. Juli 1995 sei die zeitaufwendigere Anleitung bei den pflegerischen Verrichtungen noch erforderlich gewesen, während jedenfalls ab dem Jahre 2006 lediglich Aufforderung und Kontrolle zu berücksichtigen gewesen seien, da die Klägerin Zugewinne an Eigenhandlungen zur Bewältigung pflegerelevanter Verrichtungen erlangt habe.
Gegen dieses ihr am 23. April 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 20. Mai 2009 Berufung zum Landessozialgericht eingelegt. Sie macht insbesondere geltend, es sei keine Besserung im Hinblick auf die Pflegesituation eingetreten. Im Übrigen hätte das Sozialgericht ein Sachverständigengutachten von Amts wegen einholen müssen.
Die Klägerin beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Potsdam vom 9. April 2009 sowie den Bescheid der Beklagten vom 25. April 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25. Oktober 2007 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen, hilfsweise eine Schriftsatzfrist von vier Wochen einzuräumen.
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend und regt an, den Verfasser des MdK-Gutachtens vom 27. September 2007 ergänzend zu befragen, wie seine dortigen Äußerungen zur Veränderung des Pflegebedarfs zu verstehen sind.
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen sowie auf die Verwaltungsakten der Beklagten, welche im Termin zur mündlichen Verhandlung vorgelegen haben und Gegenstand der Entscheidung gewesen sind.
Gegenstand des Berufungsverfahrens ist allein die Anfechtung des Urteils des Sozialgerichts Potsdam vom 9. April 2009 sowie der Bescheide der Beklagten vom 25. April 2006 und 25. Oktober 2007, in denen sie die Pflegestufe I nebst den dazugehörigen Leistungen aberkannt hatte. Nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens hingegen ist die Frage, ob der Klägerin ab dem 1. April 1995 statt der Pflegestufe I die Pflegestufe II hätte zuerkannt werden müssen. Zwar ergeben sich Hinweise darauf, dass die Voraussetzungen des Art. 45 Pflegeversicherungsgesetz erfüllt gewesen sein könnten und die Klägerin dementsprechend – losgelöst von dem tatsächlichen Pflegebedarf – ab dem 1. April 1995 einen Anspruch auf Zuerkennung der Pflegestufe II besessen haben könnte. Dies wird indessen gesondert in dem Überprüfungsverfahren zu klären sein, welches die Klägerin durch Stellung eines Überprüfungsantrages im Termin zur mündlichen Verhandlung vom 22. März 2011 beantragt hat.
Im Hinblick auf den hier betroffenen Streitgegenstand, nämlich die Aberkennung der Pflegestufe I zum 30. April 2006, ist die Berufung zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 143 Sozialgerichtsgesetz (SGG), sie ist auch begründet. Das angefochtene Urteil des Sozialgerichts und die angefochtenen Bescheide der Beklagten waren aufzuheben, weil sie rechtswidrig sind. Die Voraussetzungen für die Aberkennung der Pflegestufe I und die Entziehung der Leistungen zum 30. April 2006 lassen sich nicht nachweisen.
Nach § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft aufzuheben, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei seinem Erlass vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt. Zur Klärung dieser Voraussetzungen ist der Zustand, wie er zum Zeitpunkt des Erlasses des begünstigenden Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen hat, zu vergleichen mit dem Zustand, wie er sich bei der Aufhebungsentscheidung darstellt. Lässt sich bei einem solchen Vergleich eine wesentliche Veränderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse nicht erweisen, ist im Gerichtsverfahren nach den Regeln der materiellen Beweislast der Aufhebungsverwaltungsakt aufzuheben, weil insoweit die materielle Beweislast auf Seiten der handelnden Behörde angesiedelt ist.
Nach diesen Voraussetzungen waren die Aufhebungsbescheide vorliegend durch den Senat aufzuheben, denn der vorbezeichnete Vergleich lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit führen. Dies folgt vor allem daraus, dass der Zustand, wie er im Falle der Klägerin zum 1. April 1995 vorgelegen hat, sich im Nachhinein gar nicht ermitteln lässt. Denn der damaligen Verwaltungsentscheidung (Bescheid vom 1. August 1995) lagen die Feststellungen des Gutachtens des MdK vom 4. Juli 1995 zugrunde, in denen jedoch sowohl für den Grundpflegebedarf als auch im Hinblick auf den Bedarf für die hauswirtschaftliche Versorgung keinerlei einzelne zeitliche Erfassungen enthalten sind. Es lassen sich aus diesem Gutachten des MdK keinerlei Tatsachen feststellen oder erschließen, in welchem Umfang die Klägerin zum damaligen Zeitpunkt Pflegebedarf im Bereich der Grundpflege und Pflegebedarf im Bereichs der hauswirtschaftlichen Versorgung hatte. Selbst wenn - was der Senat nicht geprüft hat – die Voraussetzungen für die Pflegestufe I zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung tatsächlich nicht vorgelegen haben sollten, sagt dies nichts aus über die Frage, ob eine Änderung und insbesondere eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist. Vielmehr spricht sogar Vieles dafür, dass bereits zum Zeitpunkt des Gutachtens des MdK vom 4. Juli 1995 ein ähnlicher Pflegebedarf wie unter heutigen Verhältnissen bestanden hat, denn bereits im Gutachten vom 4. Juli 1995 war ausgeführt worden, es sei keine Besserung zu erwarten, und im Gutachten des MdK vom 20. März 2006 fand sich der Hinweis, der Zustand der Klägerin und der entsprechende Hilfebedarf sei über Jahre unverändert. Ein Besserungsnachweis sei insofern nicht führbar.
Lediglich in dem nach Aktenlage erstatteten Gutachten des MdK vom 27. September 2007 finden sich Vermutungen darüber, dass durch einen langwierigen Lernprozess Zugewinne an Eigenhandlungen zur Bewältigung pflegerelevanter Versicherungen möglich und im vorliegenden Falle auch möglicherweise eingetreten seien. Indessen sah sich der Senat hier nicht veranlasst, der Beweisanregung der Beklagten zu folgen und den Erstatter dieses Gutachtens zu einer ergänzenden Äußerung aufzufordern. Denn diese kann nicht entscheidungserheblich werden, weil der Erstatter dieses Gutachtens über keine Erkenntnisse darüber verfügt, wie der tatsächliche Pflegebedarf der Klägerin im Jahre 1995 beschaffen war. Zum damaligen Zeitpunkt war der Pflegebedarf – wie bereits ausgeführt – nicht erfasst worden; eine rückwirkende Erfassung ist nicht möglich. Schon vor diesem Hintergrund fehlt die erforderliche Vergleichsbasis, um überhaupt eine zuverlässige Aussage über den tatsächlichen Umfang der Veränderungen im Falle der Klägerin geben zu können.
Der Senat sah sich schließlich auch nicht veranlasst, dem Hilfsantrag der Beklagten zu folgen und eine Schriftsatzfrist von vier Wochen einzuräumen. Grundlage der Entscheidung des Senats ist allein der Prozessstoff, wie er sich aus den Verwaltungsakten der Beklagten und den zwischen den Beteiligten gewechselten schriftlichen und mündlichen Äußerungen ergibt. Die für den Senat entscheidungserheblichen Umstände sind im Termin zur mündlichen Verhandlung umfassend erörtert worden; die Beklagte hat im Übrigen hierzu auch im Einzelnen Stellung genommen. Weder aus dem Vorbringen der Beklagten noch aus sonstigen Erkenntnissquellen ergibt sich, dass die Beklagte weitere Umstände im Prozess geltend machen kann, die nicht bereits Teil des Prozessstoffes waren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und entspricht dem Ausgang des Verfahrens in der Sache selbst.
Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe nach § 160 Abs. 2 SGG nicht ersichtlich sind.