Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 9. Senat | Entscheidungsdatum | 28.02.2011 | |
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Aktenzeichen | OVG 9 S 63.10 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 80 VwGO, § 12 KomVerf BB, § 44 NachbG BB |
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Cottbus vom 30. Juli 2010 wird hinsichtlich der Antragsablehnung im Übrigen geändert: Die aufschiebende Wirkung der Klage VG 7 K 163/10 gegen die Anschlussverfügung vom 21. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2010 wird wiederhergestellt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 3.750 EUR festgesetzt.
I.
Der Antragsteller ist Eigentümer eines bebauten Grundstücks in der Gemeinde S…, das aus Sicht der dortigen Bahnhofstraße ein Hinterliegergrundstück ist, weil es durch andere Grundstücke von der Straße getrennt wird. Der weitaus größte Teil des Grundstücks des Antragstellers liegt aus Sicht der Bahnhofstraße hinter einem unbebauten und bewaldeten Grundstück. Über dieses Grundstück verläuft auch die wegemäßige Verbindung zur Bahnhofstraße. Der Antragsteller ist nicht Eigentümer der Vorderliegergrundstücke, insbesondere nicht des bewaldeten Vorderliegergrundstücks.
Der Antragsgegner ist Verbandsvorsteher des örtlichen Wasser- und Abwasserzweckverbandes. Mit Anschlussverfügung vom 21. Mai 2008 gab er dem Antragsteller unter Androhung eines Zwangsgeldes von 1.000 Euro auf, sein Grundstück bis zum 30. Juni 2008 an die in der Bahnhofstraße verlegte Schmutzwasserkanalisation anzuschließen. Der Antragsteller erhob am 27. Mai 2008 Widerspruch, den der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 23. Februar 2010 zurückwies. In dem Widerspruchsbescheid ordnete der Antragsgegner erstmals die sofortige Vollziehung der Anschlussverfügung an und setzte dem Antragsteller nunmehr eine Frist bis zum 30. April 2010. Seine Zwangsgeldandrohung wiederholte er.
Der Antragsteller hat am 8. März 2010 Klage gegen die Anschlussverfügung in Gestalt des Widerspruchsbescheides erhoben und am folgenden Tag auch um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht. Mit Beschluss vom 30. Juli 2010 hat das Verwaltungsgericht die aufschiebende Wirkung der Klage lediglich hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung angeordnet. Den Eilantrag des Antragstellers im Übrigen, d.h. hinsichtlich der Anschlussverfügung, hat das Verwaltungsgericht abgelehnt.
Der Beschluss ist dem Antragsteller am 5. August 2010 zugegangen. Er hat am 18. August 2008 gegen die Ablehnung seines Eilantrags im Übrigen Beschwerde erhoben und diese sogleich begründet.
II.
Die Beschwerde ist begründet. Das fristgerechte Beschwerdevorbringen (§ 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO) gibt Anlass zu einer Änderung des erstinstanzlichen Beschlusses dahin, dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Anschlussverfügung vom 21. Mai 2008 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 23. Februar 2010 wiederhergestellt wird.
Die Anschlussverfügung ist nicht gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3, Satz 2 VwGO kraft Gesetzes sofort vollziehbar, vielmehr hat der Antragsgegner ihre sofortige Vollziehung gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet. In einem derartigen Fall bedarf es nicht nur - regelmäßig - einer behördlichen Begründung für die Vollziehungsanordnung (§ 80 Abs. 3 VwGO), sondern es muss auch aus Sicht des Gerichts eine sachliche Rechtfertigung für die sofortige Vollziehung gegeben sein, die dem Ausnahmecharakter der sofortigen Vollziehung Rechnung trägt. Von diesem Ansatz ist auch das Verwaltungsgericht ausgegangen. Die Beschwerde rügt indessen zu Recht, dass eine entsprechende Rechtfertigung hier nicht ersichtlich ist.
1. Allerdings dürfte die Beschwerde irren, wenn sie meint, dass es von vornherein zunächst einmal Sache des Wasser- und Abwasserzweckverbandes sei, einen Grundstücksanschluss einschließlich Revisionsschacht unmittelbar vor oder auf dem Grundstück des Antragstellers herzustellen, bevor vom Antragsteller verlangt werden könne, sein Grundstück an die Schmutzwasserkanalisation anzuschließen. Zwar wird der Grundstücksanschluss nach § 8 Abs. 1 der Abwasserentsorgungssatzung des Zweckverbandes (AbwES) vom Zweckverband hergestellt. Auch trifft es zu, dass § 3 Nr. 10 bis 12 AbwES den vom Zweckverband herzustellenden Grundstücksanschluss in der Weise definiert, dass jedenfalls die gesamte technische Einrichtung zwischen dem (in der Straße verlaufenden Schmutzwasser-)Kanal und der Grundstücksgrenze zum Grundstücksanschluss zählt und der Grundstücksanschluss unter Umständen sogar noch technische Einrichtungen auf dem anzuschließenden Grundstück umfassen kann, nämlich dann, wenn der (nach der Satzung stets zum Grundstücksanschluss zählende) Revisionsschacht nicht vor, sondern auf dem anzuschließenden Grundstück liegt (vgl. § 3 Nr. 10 Satz 3 AbwES). Hieraus dürfte die Beschwerde indessen für ihre Auffassung von den vorgreiflichen Pflichten des Zweckverbandes nichts ableiten können. Die genannten Bestimmungen haben erkennbar nur den "Normalfall" im Blick, bei dem das anzuschließende Grundstück unmittelbar an die Straße angrenzt. Die Frage, wie der vom Zweckverband herzustellende Grundstücksanschluss im Falle eines Hinterliegergrundstücks zu definieren ist, dürfte ihnen nur im Wege ergänzender Auslegung zu entnehmen sein. Bei der leitungsgebundenen Ver- und Entsorgung von Grundstücken muss eine Abgrenzung der Verantwortungsbereiche einerseits des Ver- oder Entsorgers, andererseits des Grundstückseigentümers erfolgen. Dies gilt nicht nur hinsichtlich der Herstellung, sondern auch der Wartung, Unterhaltung und Beseitigung von Verstopfungen. Die Abwasserentsorgungssatzung zieht diese Grenze für den Fall eines unmittelbar an die Straße angrenzenden Grundstücks regelmäßig bei der straßenseitigen Grundstücksgrenze, es sei denn, der Revisionsschaft liegt ausnahmsweise auf dem anzuschließenden Grundstück; nur in diesem Fall bildet erst der Revisionsschacht die Grenze der Verantwortungsbereiche des Zweckverbandes und des Grundstückseigentümers. Es gibt keinen vernünftigen Grund dafür, warum die genannte Grenze im Falle eines Hinterliegergrundstücks weiter vom Kanal und von der Straße entfernt sein sollte. Der Zweckverband dürfte für Hinterliegergrundstücke nicht mehr tun müssen als für Vorderliegergrundstücke, d.h. er dürfte auch insoweit grundsätzlich nur gehalten sein, einen Revisionsschacht im Straßenraum und eine Leitung zwischen Kanal und Straßengrenze herzustellen, allenfalls einen Revisionsschacht auf dem Vorderliegergrundstück und die Leitung vom Kanal bis dahin. Alles andere dürfte Sache des Eigentümers des Hinterliegergrundstücks sein.
2. Ungeachtet dessen fehlt eine besondere sachliche Rechtfertigung für die sofortige Vollziehung hier deshalb, weil der Antragsgegner einerseits vom Antragsteller Maßnahmen verlangt, die auf die Schaffung vollendeter Tatsachen auch für die Zukunft hinauslaufen, andererseits nicht ansatzweise erkennbar ist, aus welchem Grund diese Maßnahmen derzeit dringlich sein sollen. Der Antragsteller soll nach dem Willen des Antragsgegners eine Verbindung zwischen seinen häuslichen Abwasserleitungen und dem soeben unter 1) definierten Grundstücksanschluss schaffen, und zwar durch Verlegung einer Leitung unter anderem auf dem bewaldeten Vorderliegergrundstück. Für die Verlegung dieser Leitung schlägt der Antragsgegner dem Antragsteller zwecks Baumschutzes das Horizontalbohrverfahren vor. Den für die Leitungsverlegung notwendigen Duldungstitel gegenüber der Eigentümerin des Vorderliegergrundstücks soll der Antragsteller auf der Grundlage des § 44 BbgNRG augenscheinlich selbst einklagen. Denn der Antragsteller hat unwidersprochen behauptet, dass die Eigentümerin des Vorderliegergrundstücks ihre Zustimmung zu der Leitungsverlegung verweigert hat, und es ist nicht ersichtlich, dass der Antragsgegner seinerseits etwas dafür zu tun gedenkt, dem Antragsteller die Zustimmung der Grundstückseigentümerin oder einen entsprechenden Duldungstitel zu verschaffen. Eine einmal erstellte Verbindung zwischen den häuslichen Abwasserleitungen und dem öffentlichen Schmutzwasserkanal lässt sich indessen jedenfalls nicht sinnvoll, eine Klageerhebung gegenüber dem Nachbarn im Grunde überhaupt nicht rückgängig machen. Beides wirkt vielmehr weit in die Zukunft hinein. Warum derart vollendete Tatsachen jetzt schon geschaffen werden sollten, ist jedoch nicht erkennbar. Es ist nichts dafür ersichtlich, dass der vorläufige Nichtanschluss des Grundstücks des Antragstellers an die Schmutzwasserkanalisation wegen einer ungeordneten Entsorgungssituation auf dem Grundstück zu einer konkreten Gefahr für das Grundwasser und die Volksgesundheit führt; vielmehr hat der Antragsteller unwidersprochen behauptet, über eine Sammelgrube zu verfügen und diese - durch den Zweckverband - leeren zu lassen. Es ist auch nichts dafür ersichtlich, dass die technische Funktionsfähigkeit der Schmutzwasserkanalisation in der Bahnhofstraße wegen mangelnden Schmutzwasserdurchsatzes gefährdet oder gar beeinträchtigt wird oder dass es zu einem - in Bezug auf das Gesamtgebührenaufkommen - spürbaren Gebührenausfall kommt, wenn der Antragsteller sein Grundstück vorerst nicht an die Schmutzwasserkanalisation anschließt. Schließlich ist auch nichts dafür ersichtlich, dass der vorläufige Nichtanschluss des Grundstücks des Antragstellers wenigstens zusammen mit dem Nichtanschluss anderer Grundstücke zu Problemen technischer oder gebührenmäßiger Art führt oder - etwa über Nachahmungseffekte - zu führen droht. Insoweit fällt auf, dass der Antragsgegner die überhaupt erst im Widerspruchsbescheid vorgenommene Anordnung der sofortigen Vollziehung seinerzeit nur schlagwortartig begründet und diese Begründung trotz Kritik des Antragstellers auch im gerichtlichen Verfahren nicht ansatzweise näher untersetzt hat; vielmehr hat der Antragsgegner sich auf den Standpunkt zurückgezogen, dass sich das Vollzugsinteresse bereits aus "der offensichtlichen Rechtsmäßigkeit" der Anschlussverfügung ergebe. Auch dies trägt indessen nicht, wobei offen bleiben kann, ob die vorliegende Anschlussverfügung wirklich offensichtlich rechtmäßig ist. Die Anforderungen an die Rechtfertigung der sofortigen Vollziehung mögen umso geringer sein, je weniger Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen. Sollen mit dem Verwaltungsakt indessen vollendete Tatsachen auch für die Zukunft geschaffen werden, so muss selbst bei offensichtlicher Rechtmäßigkeit jedenfalls ansatzweise etwas erkennbar sein, das neben der offensichtlichen Rechtmäßigkeit für die sofortige Vollziehung spricht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).