Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 6. Senat | Entscheidungsdatum | 20.10.2011 | |
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Aktenzeichen | OVG 6 S 51.11, OVG 6 M 63.11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 123 Abs 1 VwGO, § 920 ZPO, § 33a Abs 1 SGB 1, § 42 SGB 8, Art 3 Abs 1 GG, § 920 ZPO, § 166 VwGO, § 123 Abs 3 VwGO, § 146 Abs 4 S 6 VwGO |
1. Verfährt eine Behörde bei der Überprüfung des Vorliegens gesetzlicher Anspruchsvoraussetzungen regelmäßig in einer bestimmten Art und Weise, tritt insofern eine Selbstbindung ein mit der Folge, dass von dem praktizierten Verfahren in anderen Fällen nicht ohne hinreichende sachliche Rechtfertigung abgewichen werden darf.
2. Die Altersangabe in einer Asylbewerberbescheinigung entbindet die für die Jugendhilfe zuständige Behörde nicht von ihrer Pflicht, das Alter einer Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII begehrenden Person in eigener Verantwortung zu prüfen.
3. Bei der Altersangabe eines Asylbewerbers gegenüber einer Aufnahmeeinrichtung für Asylbewerber handelt es sich nicht um eine Altersangabe gegenüber einem Sozialleis-tungsträger im Sinne des § 33a Abs. 1 SGB I.
Auf die Beschwerde der Antragstellerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 16. August 2011 geändert. Der Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung verpflichtet, die Antragstellerin vorläufig, mindestens bis zu einer erneuten Entscheidung unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über ihren Antrag vom 22. Juli 2011 auf Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII, in einer Berliner Jugendhilfeeinrichtung in Obhut zu nehmen. Im Übrigen wird der Antrag zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
Der Antragstellerin wird Prozesskostenhilfe für das Verfahren erster Instanz sowie für das Beschwerdeverfahren bewilligt und ihr Rechtsanwalt Christian Zimmer aus Berlin beigeordnet.
I.
Die Antragstellerin ist nach eigenen Angaben somalische Staatsangehörige und am 25. Mai 2011 ohne Reisedokumente in die Bundesrepublik Deutschland eingereist. Sie beantragte am folgenden Tag bei der Zentralen Aufnahmeeinrichtung des Landes Berlin für Asylbewerber - ZAA - die Gewährung von Asyl und erhielt hierüber eine Bescheinigung, in der als Geburtsdatum der 21. Dezember 1985 angegeben war. Im Rahmen ihrer Anhörung zum Asylantrag beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gab sie an, ihr Geburtsdatum sei nicht korrekt aufgenommen worden. Sie sei nicht am 21. Dezember 1985, sondern am 21. Dezember 1995 geboren.
Am 22. Juli 2011 beantragte die Antragstellerin ihre Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII durch die Senatsverwaltung für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Mit Bescheid vom 26. Juli 2011 lehnte der Antragsgegner dies mit der Begründung ab, die Antragstellerin habe das Geburtsjahr 1985 gegenüber der Asylbehörde selbst angegeben. Eine Überprüfung durch das Bundesamt habe zu keiner Änderung des Geburtsjahres geführt. Sie habe keine Dokumente vorgelegt, aus denen sich ihre Minderjährigkeit ergebe.
Den hiergegen gerichteten Antrag, den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die Antragstellerin bis zu einer Entscheidung über die zeitgleich erhobene Klage in einer Berliner Jugendhilfeeinrichtung in Obhut zu nehmen, hat das Verwaltungsgericht mit der Begründung abgelehnt, die Antragstellerin habe die von ihr behauptete Minderjährigkeit nicht glaubhaft gemacht. Die bloße Behauptung, sie sei im Jahr 1995 geboren, reiche hierfür nicht aus. Auch die eingereichte Stellungnahme der Frau V… vom 12. Juli 2011, die nach eigenen Angaben langjährige Erfahrung im Umgang mit minderjährigen Flüchtlingen habe und die Antragstellerin für minderjährig halte, genüge hierfür nicht.
II.
1. Auf die zulässige Beschwerde der Antragstellerin ist der Beschluss des Verwaltungsgerichts zu ändern und der Antragsgegner wie aus dem Tenor ersichtlich zu verpflichten. Nach den vom Oberverwaltungsgericht gemäß § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO zu prüfenden Gründen hat die Antragstellerin sowohl einen Anordnungsanspruch als auch einen Anordnungsgrund für die begehrte einstweilige Anordnung im aus dem Tenor ersichtlichen Umfang glaubhaft gemacht (vgl. § 123 Abs. 1 und 3 VwGO in Verbindung mit § 920 ZPO).
a) Sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Antragsgegner gehen zu Unrecht davon aus, dass mit der erforderlichen überwiegenden Wahrscheinlichkeit feststeht, dass die Antragstellerin keinen Anspruch auf Inobhutnahme hat. Die Frage, ob die Antragstellerin ihre Inobhutnahme nach § 42 SGB VIII gegenüber dem Antragsgegner beanspruchen kann, hängt maßgeblich von ihrem Alter ab. Das Alter der Antragstellerin ist nach Aktenlage allerdings offen. Außer ihren eigenen Angaben und den hiervon abweichenden Angaben in der Bescheinigung der ZAA, über deren Zustandekommen nichts Näheres bekannt ist, lässt sich den vorliegenden Unterlagen zu dieser Frage nichts entnehmen. Der Vortrag der Antragstellerin, wonach sie keine Identitätspapiere besitze oder erlangen könne, die Aufschluss über ihr Alter geben, lässt sich nicht widerlegen. Damit ist letztlich unklar, ob die Antragstellerin minderjährig ist.
Zwar trifft die Annahme des Verwaltungsgerichts zu, dass die Darlegungs- und Beweislast für das von ihr behauptete Alter die Antragstellerin selbst trägt. Dies enthebt jedoch den Antragsgegner nicht von seiner Pflicht, den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären. Insbesondere kann die Antragstellerin von ihm verlangen, verfahrensmäßig ebenso behandelt zu werden, wie andere Personen, die Minderjährigkeit behaupten und aus diesem Grunde Inobhutnahme begehren. Dieser Anspruch folgt aus der dem Senat bekannten Verwaltungspraxis des Antragsgegners in Verbindung mit dem allgemeinen Gleichheitssatz des Artikels 3 Abs. 1 GG. Verfährt eine Behörde bei der Überprüfung des Vorliegens gesetzlicher Anspruchsvoraussetzungen regelmäßig in einer bestimmten Art und Weise, tritt insofern eine Selbstbindung ein mit der Folge, dass von dem praktizierten Verfahren in anderen Fällen nicht ohne hinreichende sachliche Rechtfertigung abgewichen werden darf. Die Verwaltungspraxis des Antragsgegners in Fällen ausländischer Flüchtlinge, die - wie die Antragstellerin - für sich Minderjährigkeit reklamieren und um ihre Inobhutnahme bitten (vgl. § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGB VIII), stellt sich - wie dem Senat aus zahlreichen vergleichbaren Fällen bekannt ist - so dar, dass zunächst eine Inobhutnahme erfolgt und sodann kurzfristig ein Erstgespräch mit dem oder der Betroffenen stattfindet. Sofern die Mitarbeiter des Antragsgegners die Altersangaben bei diesem Erstgespräch für glaubhaft halten, wird die Inobhutnahme fortgeführt. Halten sie die Altersangaben dagegen für zweifelhaft, führen sie weitere Ermittlungen - wie insbesondere die Einholung medizinischer Gutachten zur Altersdiagnostik - durch. Erst wenn diese Ermittlungen die Zweifel an der Richtigkeit der Altersangaben bestätigen, wird die Inobhutnahme beendet. Vor diesem Hintergrund kann auch die Antragstellerin grundsätzlich verlangen, dass der Antragsgegner sie zunächst in Obhut nimmt und in der skizzierten Weise mit ihr verfährt.
Ein sachlicher Grund, von dieser Verfahrensweise im vorliegenden Fall abzuweichen, ist nicht ersichtlich. Die Auffassung des Antragsgegners, er sei an die Altersangabe in der Bescheinigung der ZAA gebunden, ist nicht nachvollziehbar. Der Antragsgegner legt nicht dar, aufgrund welcher Rechtsvorschriften eine solche Bindung bestehen soll. Eine Bindungswirkung nach § 33a Abs. 1 SGB I besteht jedenfalls nicht. Nach dieser Vorschrift ist das Geburtsdatum maßgebend, das sich aus der ersten Angabe des Berechtigten oder Verpflichteten gegenüber einem Sozialleistungsträger ergibt, wenn Rechte oder Pflichten davon abhängig sind, dass eine bestimmte Altersgrenze erreicht oder nicht überschritten ist. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt. Selbst wenn man unterstellt, dass die Antragstellerin die Altersangabe gegenüber der ZAA selbst vorgenommen hat, handelte es sich hierbei nicht um eine Altersangabe gegenüber einem Sozialleistungsträger (vgl. Mrozynski, SGB I, 4. Auflage, 2010, § 33a, Rn. 6). Unbeschadet dessen ist auch gänzlich unklar, ob das in der Bescheinigung der ZAA angegebene Alter tatsächlich auf Angaben der Antragstellerin beruht. Nach Aktenlage kann nicht ausgeschlossen werden, dass das Geburtsjahr der Antragstellerin falsch übersetzt wurde oder auf einem Schreib- oder sonstigen Übertragungsfehler beruht, zumal die Antragstellerin ausdrücklich bestreitet, das Geburtsjahr 1985 bei der Asylantragstellung angegeben zu haben. Soweit der Antragsgegner zudem die Ansicht geäußert hat, aufgrund der Altersangabe in der Bescheinigung der ZAA sei er von seiner Pflicht zur Amtsaufklärung enthoben, ist auch hierfür eine Rechtsgrundlage nicht ersichtlich. Vielmehr entbindet ihn die Altersangabe in dieser Bescheinigung nicht von seiner Pflicht, das Alter der Antragstellerin in eigener Verantwortung zu prüfen. Soweit er davon ausgeht, die Antragstellerin habe selbst das Geburtsjahr 1985 gegenüber der Asylbehörde angegeben, kann dahinstehen, ob sie sich daran festhalten lassen müsste mit der Folge, dass eine Inobhutnahme ausschiede. Denn diese Annahme des Antragsgegners ist aus den dargelegten Gründen nicht haltbar.
b) Die Antragstellerin hat ferner einen Anordnungsgrund hinreichend glaubhaft gemacht. Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO sind einstweilige Anordnungen zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile, zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Würde der Ausgang des Hauptsacheverfahrens abgewartet, drohte der Antragstellerin zumindest bis zu dieser Entscheidung endgültiger Anspruchsverlust. Unterstellt, ihre Altersangabe träfe zu und sie wäre tatsächlich erst 15 Jahre alt, wäre ihr dies nicht zumutbar, denn dann bedürfte sie altersbedingt Maßnahmen der Jugendhilfe. Effektiver Rechtsschutz im Sinne des Artikels 19 Abs. 4 Satz 1 GG ist für die Antragstellerin daher allein durch die hier getroffene Anordnung zu erlangen, die gewährleistet, dass eine ordnungsgemäße Überprüfung ihrer Altersangaben erfolgt.
2. Soweit sie mit ihrem Rechtsschutzbegehren darüber hinaus die vorläufige Inobhutnahme durch den Antragsgegner bis zu einer Entscheidung im Klageverfahren VG 18 K 248.11 begehrt, war die Beschwerde zurückzuweisen. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag insoweit zu Recht abgelehnt. Die mit der vorläufigen Inobhutnahme letztlich verbundene Vorwegnahme der Hauptsache wäre nur zulässig, wenn ihr Obsiegen im Hauptsacheverfahren mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden könnte. Daran fehlt es. Ob die Antragstellerin im Hauptsacheverfahren obsiegt, hängt von der Frage ab, ob sie minderjährig ist. Minderjährigkeit der Antragstellerin kann nicht mit hoher Wahrscheinlichkeit angenommen werden. Die Frage ihres Alters ist vielmehr aus den dargelegten Gründen offen. Insofern wirkt sich auch der Umstand aus, dass die Antragstellerin ihre Altersangaben nicht hinreichend glaubhaft gemacht hat. Soweit sie geltend macht, eine Glaubhaftmachung sei ihr nicht möglich, weil sie Unterlagen aus dem Heimatland nicht beschaffen und sich die Einholung eines medizinischen Gutachtens zur Altersfeststellung finanziell nicht leisten könne, ändert das hieran nichts. Der Antragstellerin ist es zumutbar, die Prüfung ihrer Altersangaben im Rahmen des vom Antragsgegner praktizierten Verfahrens abzuwarten.
3. Die Beschwerde der Antragstellerin gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe hat Erfolg, weil die für die Beurteilung der Erfolgsaussichten des Verfahrens letztlich maßgebliche Frage des Alters der Antragstellerin aus den dargelegten Gründen offen ist (§ 166 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO).
4. Aus dem gleichen Grund ist auch ihr Antrag, ihr für die Durchführung des Beschwerdeverfahrens Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Verfahrensbevollmächtigten zu bewilligen, erfolgreich (§ 166 VwGO in Verbindung mit § 114 ZPO).
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 Satz 2 VwGO gerichtkostenfrei.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).