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Nachteilsausgleich - Merkzeichen aG - Zeitpunkt


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 13. Senat Entscheidungsdatum 23.08.2012
Aktenzeichen L 13 SB 66/12 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 69 Abs 4 SGB 9

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 2012 sowie der Bescheid des Beklagten vom 4. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2009 in der Fassung der Bescheide vom 11. April 2011, 12. Dezember 2011 und 5. Juli 2012 abgeändert und der Beklagte verpflichtet, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens „aG“ bei der Klägerin auch für die Zeit von Juni 2011 bis April 2012 festzustellen.

Der Beklagte hat die notwendigen außergerichtlichen Kosten der Klägerin des Berufungsverfahrens in vollem Umfang sowie des erstinstanzlichen Verfahrens im Umfang von einem Viertel zu erstatten. Im Übrigen findet keine Kostenerstattung statt.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

Mit ihrer Berufung erstrebt die Klägerin zuletzt noch die Feststellung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens „aG“ auch im Zeitraum von Juni 2011 bis April 2012.

Für die 1923 geborene Klägerin ist seit dem 1. Oktober 2011 das Vorliegen der Pflegestufe II festgestellt, nachdem für sie zuvor seit März 2006 die Pflegestufe I anerkannt war. Mit bestandskräftigem Bescheid vom 25. Juni 2006 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 22. Juni 2007 stellte der Beklagte auf den Änderungsantrag der Klägerin vom 21. März 2006 einen Grad der Behinderung (GdB) von weiterhin 60 aufgrund folgender Funktionsbeeinträchtigungen fest:

Wiederkehrende Reizerscheinungen und

        

Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule bei Fehlhaltung

        

und ausgeprägten Verschleißerscheinungen

(Einzel-GdB 30)

Daumensattelgelenksarthrose beidseits, Karpaltunnel-Syndrom

        

links, Hüft- und Kniegelenksverschleiß, Fußfehlform

(Einzel-GdB 30)

Psychovegetative Labilität, depressive Verstimmung

(Einzel-GdB 20)

Hörminderung beidseits, Tinnitus

(Einzel-GdB 10)

Sehbehinderung

(Einzel-GdB 10)

Bluthochdruck

(Einzel-GdB 10)

Diabetes mellitus

(Einzel-GdB 10)

Gleichzeitig stelle der Beklagte fest, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichen „G“ (erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) nicht vorlägen.

Auf den Änderungsantrag der Klägerin vom 29. Oktober 2008, mit dem sie erneut eine Neufeststellung wegen der Verschlimmerung bestehender Behinderungen – jedoch nicht das Vorliegen von Merkzeichen – begehrte, stellte der Beklagte nach Einholung einer gutachterlichen Stellungnahme seines ärztlichen Dienstes vom 21. April 2009 mit Bescheid vom 4. Juni 2009 fest, dass eine Verschlimmerung des bestehenden Leidenszustandes nicht festgestellt werden könne. Den dagegen von der Klägerin am 9. Juli 2009 eingelegten Widerspruch, mit dem diese allgemeine Erläuterungen über die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ übersandte, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 21. September 2009 mit der Begründung zurück, die Auswirkungen der Funktionsbeeinträchtigungen seien im angefochtenen Bescheid vollständig erfasst und mit einem GdB von 60 weiterhin angemessen bewertet. Darüber hinaus lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung der Merkzeichen „B“ und „aG“ bei der Klägerin nicht vor.

Die Klägerin hat am 15. Oktober 2009 Klage vor dem Sozialgericht Berlin erhoben, mit der sie vorgetragen hat, dass sich ihr gesundheitlicher Zustand im letzten halben Jahr verschlechtert habe und sie sich nur noch mit Hilfe von zwei Gehstöcken unter starken Schmerzen innerhalb der Wohnung fortbewegen könne. Nach Einholung von Befundberichten der die Klägerin behandelnden Orthopäden, des Internisten und des Augenarztes sowie Beiziehung von Berichten über eine durchgeführte Augenoperation erkannte der Beklagte mit Bescheid vom 11. April 2011 ab Dezember 2009 einen GdB von 70 an und legte dabei folgende Funktionsbeeinträchtigungen zugrunde:

Sehminderung, eingepflanzte Kunstlinse beidseits

(Einzel-GdB 40)

Wiederkehrende Reizerscheinungen und

        

Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule bei Fehlhaltung

        

und ausgeprägten Verschleißerscheinungen

(Einzel-GdB 30)

Daumensattelgelenksarthrose beidseits, Karpaltunnel-Syndrom

        

links, Hüft- und Kniegelenksverschleiß, Fußfehlform

(Einzel-GdB 30)

Hörminderung beidseits, Tinnitus

(Einzel-GdB 20)

Psychovegetative Labilität, depressive Verstimmung

(Einzel-GdB 20)

Bluthochdruck

(Einzel-GdB 10)

Diabetes mellitus

(Einzel-GdB 10)

Im Anschluss daran hat das Sozialgericht ein Sachverständigengutachten bei dem Allgemeinmediziner Dipl.-Med. K eingeholt. Dieser schildert in seinem Gutachten vom 22. Juli 2011, dass die Klägerin anlässlich der am 28. Juni 2011 durchgeführten Untersuchung als Beschwerdebild mitgeteilt habe, praktisch keine Treppen mehr steigen und nur noch wenige Meter am Rollator oder an zwei Unterarmgehstützen mit einer Begleitperson gehen zu können. Das Gangbild beschreibt der Gutachter als mühsam, kleinschrittig und schmerzbeladen, sehr langsam und vornübergebeugt mit beidseitigem Hinken rechts stärker als links, wobei eine Absicherung durch ihn oder den Sohn bei Nutzung von zwei Unterarmgehstützen notwendig sei. Mehr als einige Schritte seien der Klägerin nicht möglich. Hinsichtlich der einzelnen Funktionsbeeinträchtigungen, deren Einzel-GdB und dem Gesamt-GdB schloss sich der Gutachter den Feststellungen des Beklagten im Wesentlichen an und stellte zusätzlich lediglich einen Reizmagen mit einem Einzel-GdB von 10 fest. Im Rahmen der Würdigung des Gesamtgrades der Behinderung führte der Sachverständige aus, dass die Wirbelsäulenveränderungen mit Funktionseinschränkungen durch die Verschleißerscheinungen der großen Extremitätengelenke verstärkt würden und sich der Leidenskomplex unmittelbar auf die Mobilität auswirke. Erschwerend kämen die Einschränkungen der Sinnesleistungen hinzu. Auch der Bluthochdruck könne bei Übergewicht in Verbindung mit dem Diabetes mellitus erschwerend in Form von Schwindel und Luftnot Einfluss nehmen. Die Klägerin sei aufgrund ihrer Einschränkungen im Gehvermögen verbunden mit einer Störung der Orientierung bei einer doch deutlichen Sehminderung nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten und ohne Gefahren für sich und andere in der Lage, Wegstrecken im Ortsverkehr, die üblicherweise noch zurückgelegt werden können, zurückzulegen. Sie sei nicht annähernd in der Lage, eine Strecke von etwa 2.000 Metern überhaupt – unabhängig von einer Zeitvorgabe – zurückzulegen. Möglich seien ihr rund 20 Meter, dann benötige sie eine Pause. Außerhalb eines Kraftfahrzeuges könne sich die Klägerin dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung bewegen. Allerdings gehe die Fähigkeit der Klägerin zur Mobilität über den von dem Personenkreis der querschnittsgelähmten, doppeloberschenkelamputierten, hüftexartikulierten oder einseitig oberschenkelamputierten Menschen, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder die nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, hinaus. Die Funktionseinschränkungen bestünden bei der Klägerin zumindest seit Oktober 2008.

Mit Bescheid vom 12. Dezember 2011 stellte der Beklagte daraufhin fest, dass der GdB der Klägerin weiterhin 70 betrage, bei im Übrigen unveränderten Funktionsbeeinträchtigungen eine außergewöhnliche Schmerzreaktion mit einem Einzel-GdB von 20 bestehe und seit Juni 2011 die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung der Merkzeichen „G“ und „B“ vorlägen. Weitere Funktionsbeeinträchtigungen bzw. gesundheitliche Merkmale könnten nicht festgestellt werden.

Das Sozialgericht hat in der Folgezeit nach Anhörung der Beteiligten die Klage mit Gerichtsbescheid vom 19. März 2012 abgewiesen. Zur Begründung führt das Sozialgericht aus, dass für eine gerichtliche Entscheidung nach dem Teilanerkenntnis des Beklagten in Form des Bescheides vom 11. April 2011 kein Rechtsschutzbedürfnis mehr bestünde. Soweit die Klägerin die Feststellung eines höheren GdB bereits ab Antragstellung im Oktober 2008 sowie die Anerkennung des Merkzeichens „aG“ begehre, sei die Klage unbegründet. Die Zuerkennung eines höheren GdB als 60 vor Dezember 2009 käme nicht in Betracht. Erst mit Verschlimmerung des Augenleidens ab Dezember 2009 sei der GdB mit 70 zutreffend bewertet worden. Die Bewertungen der Einzelleiden der Klägerin durch den Beklagten seien durch das eingeholte Sachverständigengutachten bestätigt worden. Die Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ lägen nicht vor, da die Gehfähigkeit der Klägerin nicht in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt sei und sie sich nicht nur unter ebenso großen körperlichen Anstrengungen wie Personen der Vergleichsgruppe fortbewegen könne.

Gegen den ihr am 22. März 2012 zugestellten Gerichtsbescheid hat die Klägerin am 2. April 2012 Berufung eingelegt, mit der sie vorträgt, nicht mehr laufen zu können. In der Wohnung sei dies nur mit Hilfe eines Rollators für einige Schritte möglich, außerhalb der Wohnung könne sie sich nur mit einem Rollstuhl fortbewegen. Ihr Gesundheitszustand habe sich seit November 2011 massiv verschlechtert. Wegen eines Adenokarzinoms der Unterkieferspeicheldrüse mit Metastasen habe sie sich in stationärer Krankenhausbehandlung mit anschließender Strahlentherapie befunden. Zudem habe sie sich im Januar und Februar 2012 wegen einer massiven immobilisierenden Lumboischialgie mit radikulärer Schmerzausstrahlung und Sensibilitätsstörungen in den Bereich L4/L5 rechts in teilweise stationäre Krankenhausbehandlung begeben. Im Mai 2012 sei ein Adenokarzinom der Gebärmutter festgestellt und ein weiterer stationärer Krankenhausaufenthalt erforderlich geworden. Im Juni 2012 habe schließlich ein stationärer Krankenhausaufenthalt zur Angiographie der Bauchaorta sowie der Becken- und Beingefäße stattgefunden. Da sie den Eindruck gewonnen habe, dass der Beklagte ihre Gehunfähigkeit nicht angemessen beschreibe, bitte sie das Gericht, ein schmerztherapeutisches Gutachten einzuholen, da sie nicht nur unfähig sei, sich ohne Rollstuhl irgendwo hinzubegeben, sondern sie die von der Wirbelsäule herrührenden chronischen Schmerzen nur mit Hilfe eines Schmerztherapeuten ertragen könne. Insofern nimmt die Klägerin Bezug auf eine Bescheinigung des MVZ vom 16. August 2012, nach dem sie seit Ende März 2012 in schmerztherapeutischer Behandlung, gegenwärtig mit Opiaten, sei.

Darüber hinaus beantragte die Klägerin bei dem Beklagten am 3. April 2012 die Neufeststellung des GdB sowie des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen „aG“, „H“ und „RF“ wegen Verschlimmerung bestehender sowie Hinzutreten neuer Behinderungen und legte unter anderem ein Pfleggutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK), erstellt von der Pflegefachkraft K vom 25. November 2011 vor, nach dem die Handkraft der Klägerin beidseits reduziert und die Fingerbeweglichkeit begrenzt sei. Die Fingerspitzen erreichten danach sitzend den Kniebereich, ein Übereinanderschlagen der Beine sei der Klägerin nicht möglich. Das Aufstehen vom Sitzen erfolge mit Teilübernahme. Die Klägerin gehe im Raum mit Aufsicht am Rollator wegen bestehender Sturzgefahr. Der freie Stand sei der Klägerin nicht möglich. Es würden Sensibilitätsstörungen in den Händen berichtet sowie ein häufig auftretender Schwindel. Im Bereich der Mobilität erkennt die Pflegegutachterin einen Hilfebedarf für das Gehen sowie jegliche Transfers in Form einer Teilübernahme an.

Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 5. Juli 2012 fest, dass bei der Klägerin ab Dezember 2011 ein GdB von 80 aufgrund der im Folgenden genannten Funktionseinschränkungen bestünde. Weitere Funktionsbeeinträchtigungen bzw. gesundheitliche Merkmale könnten nicht festgestellt werden.

Erkrankung der Mundhöhle

(Einzel-GdB 60)

Sehminderung, eingepflanzte Kunstlinse rechts

(Einzel-GdB 40)

Wiederkehrende Reizerscheinungen und

        

Funktionseinschränkungen der Wirbelsäule bei Fehlhaltung

        

und ausgeprägten Verschleißerscheinungen

(Einzel-GdB 30)

Daumensattelgelenksarthrose beidseits, Karpaltunnel-Syndrom

        

links, Hüft- und Kniegelenksverschleiß, Fußfehlform

(Einzel-GdB 30)

Hörminderung beidseits, Tinnitus

(Einzel-GdB 20)

Psychovegetative Labilität, depressive Verstimmung

(Einzel-GdB 20)

Außergewöhnliche Schmerzreaktion

(Einzel-GdB 20)

Bluthochdruck

(Einzel-GdB 10)

Diabetes mellitus

(Einzel-GdB 10)

Mit Schriftsatz vom 20. August 2012 erkannte der Beklagte bei der Klägerin einen GdB von 100 sowie das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Merkzeichen „aG“ und „T“ jeweils mit Wirkung ab Mai 2012 an. Hinzugetreten sind dabei aus Sicht des Beklagten zu den bereits anerkannten Funktionsbeeinträchtigungen eine arterielle Verschlusskrankheit des Beines beidseitig mit einem Einzel-GdB von 80 sowie eine Erkrankung der Gebärmutter mit einem Einzel-GdB von 50. Als maßgeblicher Zeitpunkt sei dabei auf die Diagnose des zweiten Karzinoms sowie die Verschlimmerung der arteriellen Verschlusskrankheit im Mai 2012 abzustellen. Die Klägerin hat das Teilanerkenntnis des Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung am 23. August 2012 angenommen und ihr Berufungsbegehren auf die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ für die Zeit ab Juni 2011 begrenzt.

Die Klägerin beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Berlin vom 19. März 2012 sowie die Bescheide des Beklagten vom 4. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2009 in der Fassung der Bescheide vom 11. April 2011, 12. Dezember 2011 und 5. Juli 2012 abzuändern und den Beklagten zu verpflichten, das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens „aG“ bei ihr für die Zeit auch von Juni 2011 bis April 2012 festzustellen.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen, soweit der Rechtsstreit nicht erledigt ist.

Er ist der Ansicht, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für die Anerkennung des Merkzeichens „aG“ erst ab Mai 2012 vorliegen.

Dem Senat haben die Verwaltungsvorgänge des Beklagten vorgelegen. Diese waren Gegen-stand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird Bezug genommen auf die Schriftsätze, das Protokoll und die Verwaltungsvorgänge des Beklagten.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig, insbesondere statthaft gemäß § 144 Absatz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG), und auch in der Sache begründet.

Die Klägerin hat einen Anspruch auf Änderung des erstinstanzlichen Gerichtsbescheides sowie des angegriffenen Bescheides. Der Bescheid des Beklagten vom 4. Juni 2009 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 21. September 2009 in der Fassung der Bescheide vom 11. April 2011, 12. Dezember 2011 und 5. Juli 2012 sowie des angenommenen Anerkenntnisses des Beklagten vom 20. August 2012 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, soweit darin festgestellt wird, dass die gesundheitlichen Voraussetzungen für das Merkzeichen „aG“ nicht auch bereits im Zeitraum von Juni 2011 bis April 2012 vorliegen.

Nach § 69 Absatz 4 SGB IX stellen die Versorgungsämter neben dem Vorliegen einer Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale fest, die Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen sind. Zu diesen Merkzeichen gehört die außergewöhnliche Gehbehinderung, für die in den Schwerbehindertenausweis nach § 3 Absatz 1 Nr. 1 Schwerbehindertenausweisverordnung das Merkzeichen „aG“ einzutragen ist und die insbesondere den von der Klägerin begehrten Zugang zu straßenverkehrsrechtlichen Parkerleichterungen eröffnet. Als Schwerbehinderte mit außergewöhnlicher Gehbehinderung sind nach Abschnitt II Nr. 1 der zu § 46 Absatz 1 Nr. 11 Straßenverkehrsordnung (StVO) erlassenen allgemeinen Verwaltungsvorschriften (VV) solche Personen anzusehen, die sich wegen der Schwere ihres Leidens dauernd nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung außerhalb ihres Kraftfahrzeuges bewegen können. Hierzu zählen querschnittsgelähmte, doppeloberschenkelamputierte, hüftexartikulierte oder einseitig oberschenkelamputierte Menschen, die dauernd außer Stande sind, ein Kunstbein zu tragen oder die nur eine Beckenkorbprothese tragen können oder zugleich unterschenkel- oder armamputiert sind, sowie andere schwerbehinderte Menschen, die nach versorgungsärztlicher Feststellung, auch aufgrund von Erkrankungen, dem vorstehend angeführten Personenkreis gleichzustellen sind.

Eine derartige Gleichstellung – auch für die Zeit von Juli 2011 bis April 2012 als einzige für die Klägerin vorliegend in Betracht kommende Tatbestandsalternative – setzt voraus, dass die Gehfähigkeit des Betroffenen in ungewöhnlich hohem Maße eingeschränkt ist und er sich nur unter ebenso großen Anstrengungen wie die in Abschnitt II Nr. 1 der VV aufgeführten schwerbehinderten Menschen oder nur noch mit fremder Hilfe fortbewegen kann (Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 11. März 1998 – B 9 SB 1/97 R, Rn. 18 bei Juris). Zwar handelt es sich bei den beispielhaft aufgeführten schwerbehinderten Menschen mit Querschnittslähmung oder Gliedmaßenamputationen in Bezug auf ihr Gehvermögen nicht einen homogenen Personenkreis, so dass es möglich ist, dass einzelne Vertreter dieser Gruppen aufgrund eines günstigen Zusammentreffens von gutem gesundheitlichen Allgemeinzustand, hoher körperlicher Leistungsfähigkeit und optimaler prothetischer Versorgung ausnahmsweise nahezu das Gehvermögen eines nichtbehinderten Menschen erreichen, was namentlich bei körperlich trainierten doppelunterschenkelamputierten Menschen mit Hilfe moderner Orthopädietechnik der Fall sein kann (BSG, Urteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 SB 7/01 R, Rn. 20 bei Juris). Derartige Besonderheiten sind jedoch nicht geeignet, den Maßstab zu bestimmen, nach dem sich die Gleichstellung anderer schwerbehinderter Menschen mit dem beispielhaft genannten Personenkreis richtet. Vielmehr hat sich der Maßstab der Gleichstellung strikt an dem der einschlägigen Regelung vorangestellten Obersatz zu orientieren (BSG, a.a.O., Rn. 21). Es kommt daher nicht darauf an, ob der das Merkzeichen „aG“ beanspruchende schwerbehinderte Mensch funktional einem doppeloberschenkelamputierten oder querschnittsgelähmten Menschen gleichsteht, sondern ob er sich außerhalb seines Kraftfahrzeuges wegen der Schwere seines Leidens entweder nur mit fremder Hilfe oder nur mit großer Anstrengung fortbewegen kann, und zwar praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeuges an (BSG, a.a.O., Rn. 23). Die Gehfähigkeit muss so stark eingeschränkt sein, dass es dem Betroffenen unzumutbar ist, längere Wege zu Fuß zurückzulegen (BSG, a.a.O., Rn. 22). Das Bundessozialgericht hat in diesem Zusammenhang zum Ausdruck gebracht, dass die für das Merkzeichen „aG“ geforderte große körperliche Anstrengung gegeben sein dürfte, wenn der Betroffene bereits nach einer Wegstrecke von 30 Metern wegen Erschöpfung eine Pause einlegen muss, um neue Kräfte zu sammeln, bevor er weitergehen kann (BSG, a.a.O., Rn. 25).

Die dargelegten gesundheitlichen Voraussetzungen für die Erteilung des Merkzeichens „aG“ liegen bei der Klägerin auch im Zeitraum von Juli 2011 bis April 2012 vor. Diese konnte sich auch während dieses noch streitigen Zeitraumes außerhalb eines Kraftfahrzeuges nach der Überzeugung des Senats von den ersten Schritten an nur mit fremder Hilfe und nur mit großer Anstrengung fortbewegen. Zu dieser Überzeugung gelangt der Senat aufgrund der Feststellungen des Allgemeinmediziners Dipl.-Med. K in seinem Gutachten vom 22. Juli 2011. Der Sachverständige beschreibt das Gangbild der Klägerin im Zeitpunkt seiner Begutachtungsuntersuchung am 28. Juni 2011 als mühsam, kleinschrittig und schmerzbeladen, sehr langsam und vornübergebeugt mit beidseitigem Hinken und dem Erfordernis einer Absicherung durch den Gutachter oder den Sohn der Klägerin bei Nutzung von zwei Unterarmgehstützen. Mehr als einige Schritte waren der Klägerin unter Zuhilfenahme und Absicherung durch eine Hilfsperson nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht möglich, der die maximale Wegstrecke, nach der die Klägerin eine Pause benötige, mit 20 Metern angibt. Dabei führte der Sachverständige im Rahmen der Würdigung des Gesamtgrades der Behinderung aus, dass die Wirbelsäulenveränderungen mit Funktionseinschränkungen durch die Verschleißerscheinungen der großen Extremitätengelenke verstärkt werden und sich der Leidenskomplex unmittelbar auf die Mobilität auswirkt, wobei die Einschränkungen der Sinnesleistungen in Form einer Störung der Orientierung bei einer doch deutlichen Sehminderung sowie durch den Bluthochdruck bei Übergewicht in Verbindung mit dem Diabetes mellitus verursachter Schwindel und Luftnot erschwerend hinzukommen. Bestätigt werden diese Feststellungen des Sachverständigen Dipl.-Med. K durch die Pflegefachkraft K, die anlässlich der Begutachtung des bei der Klägerin bestehenden Pflegeumfanges im November 2011 nur noch eine Gehfähigkeit unter Inanspruchnahme von Hilfe durch eine Pflegeperson feststellen konnte.

Der Annahme der Vergleichbarkeit der Einschränkungen der Gehfähigkeit der Klägerin mit dem in der VV genannten Personenkreis steht nicht entgegen, dass der Sachverständige Dipl.-Med. K – ohne nähere Begründung – die Vergleichbarkeit der Mobilitätseinschränkungen der Klägerin mit der Vergleichsgruppe nach seiner wertenden Betrachtung nicht als gegeben angesehen hat, denn maßgeblich für die gerichtliche Entscheidung sind allein die getroffenen medizinischen Feststellungen (vgl. zu dieser Frage bereits das Urteil des Senats vom 27. Januar 2012 – L 13 SB 152/11). Diese rechtfertigen aus den dargelegten Gründen nach der Überzeugung des Senats gerade die Anerkennung der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“, zumal der Sachverständige die von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts geforderten Kriterien für eine Gleichstellung im Einzelnen ausdrücklich als gegeben betrachtet – insoweit sind seine Feststellungen zur Fähigkeit der Klägerin, sich außerhalb eines Kraftfahrzeuges zu bewegen und die von ihm beschriebene Wegstrecke in Bezug zu nehmen – und lediglich in der Gesamtbeurteilung einen nicht an dieser Rechtsprechung ausgerichteten Maßstab zugrunde zu legen scheint.

Als Zeitpunkt der Anerkennung des Vorliegens der gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „aG“ ist bereits auf Juni 2011 abzustellen, weil im Rahmen der Begutachtungsuntersuchung bei dem Dipl.-Med. K erstmals die erforderliche Schwere der körperlichen Anstrengung der Klägerin sowie ihr Hilfebedarf beim Gehen objektiviert wurde. Da infolge des angenommenen Anerkenntnisses vom 20. August 2012 zwischen den Beteiligten nunmehr ab Mai 2012 das Vorliegen der gesundheitlichen Voraussetzungen der Erteilung des Merkzeichens „aG“ unstreitig ist, war die Verpflichtung des Beklagten für die Zeit von Juli 2011 bis April 2012 auszusprechen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Absatz 1 SGG und folgt in Bezug auf die Kosten des Berufungsverfahrens dem Ergebnis in der Hauptsache. Hinsichtlich der Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens erachtet der Senat in Ausübung des von § 193 Absatz 1 SGG eröffneten Ermessensspielraums eine Kostenbelastung des Beklagten im Umfang von einem Viertel angesichts des auch insoweit bestehenden Teilerfolges der Klägerin, die mit der Klage neben der Anerkennung des Merkzeichens „aG“ ab Antragstellung noch einen höheren Gesamt-GdB geltend gemacht hatte, für angemessen.

Die Revision war nicht zuzulassen, weil Zulassungsgründe gemäß § 160 Absatz 2 SGG nicht gegeben sind.