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Verordnungsausschluss für nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel - OTC-Übersicht - Arzneimittel-Richtlinie - homöopathisches Arzneimittel (Vertigoheel) - schwerwiegende Erkrankung - Therapiestandard


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 27.03.2013
Aktenzeichen L 7 KA 44/10 KL ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 34 SGB 5, § 92 SGB 5, § 55 SGG

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Aufnahme dreier Arzneimittel in die Anlage I (sog. OTC-Übersicht) der vom Beklagten erlassenen Arzneimittel-Richtlinie (AM-RL).

Durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) wurden mit Wirkung zum 1. Januar 2004 nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung innerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen (§ 34 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch – SGB V). Dem beklagten Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) wurde durch Satz 2 dieser Vorschrift aufgegeben, in den AM-RL festzulegen, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Erkrankungen mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden können. Dabei hat er der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen (§ 34 Abs. 1 Satz 3 SGB V).

Die Klägerin ist eine pharmazeutische Unternehmerin, die unter anderem folgende drei homöopathische Arzneimittel in den Verkehr bringt:

Name des Arzneimittels

letzter arzneimittelrechtlicher Verlängerungsbescheid

arzneilich wirksame Bestandteile

Vertigoheel
Tablette

28. März 2003
(erneuter Verlängerungsantrag ist gestellt, aber noch nicht beschieden)

Anamirta cocculus Trit. D4 210,0 mg,
Conium maculatum Trit. D3,
Ambra grisea Trit. D6,
Petroleum rectificatum Trit. D8, jeweils 30,0 mg.
Gemeinsame Potenzierung über die letzten 2 Stufen gemäß HAB, Vorschrift 40c.

Vertigoheel flüssige Verdünnung zur Injektion

12. November 2008

Conium maculatum Dil. D3,
Ambra grisea Dil. D6,
Petroleum rectificatum Dil. D8 jeweils 1,0 g,
Anamirta cocculus Dil. D4 7,0 g.
Gemeinsame Potenzierung über die letzten 2 Stufen mit Ethanol 30 % (m/m).

Vertigoheel
Mischung

18. März 2010

Conium maculatum Dil. D2,
Ambra grisea Dil. D5,
Petroleum rectificatum Dil. D7 jeweils 1,1 mg,
Anamirta cocculus Dil. D3 7,7 mg.
Die Bestandteile 1 und 2 werden über die letzte Stufe mit Wasser für Injektionszwecke gemeinsam potenziert.

Nach den oben genannten Verlängerungsbescheiden leiten sich die Anwendungsgebiete „von den homöopathischen Arzneimittelbildern ab. Dazu gehören: verschiedene Schwindelzustände.“

Nach dem der Beklagte der Klägerin gegenüber zunächst die Auffassung vertreten hatte, er müsse nicht begründen, warum ein bestimmtes Arzneimittel in der OTC-Übersicht nicht berücksichtigt werde, erhob die Klägerin im September 2004 Klage vor dem Sozialgericht Köln mit dem Ziel, die fixen Kombinationen der in den o.g. Arzneimitteln enthaltenen Wirkstoffe mit der Indikation Schwindelzustände in die OTC-Übersicht aufnehmen zu lassen. Das Sozialgericht Köln verwies den Rechtsstreit an das Sozialgericht Berlin (Az.: S 79 KA 90/05). Infolge eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 26. Oktober 2006 (Az.: C-317/05 - „Pohl-Boskamp“ -) lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 20. März 2007 den Antrag auf Änderung der OTC-Übersicht ab. Das Sozialgericht veranlasste daraufhin das Gutachten des Facharztes für Innere Medizin, Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Physikalische und Rehabilitative Medizin Prof. Dr. T D vom 18. August 2009 unter anderem zur Frage, ob Vertigoheel bei den schweren Formen von Schwindel Therapiestandard sei. Im Februar 2010 verpflichtete sich der Beklagte im Rahmen eines gerichtlichen Vergleichs, über den Widerspruch der Klägerin gegen den Bescheid vom 20. März 2007 zu entscheiden. Außerdem einigten sich die Beteiligten darüber, dass bei ablehnendem Widerspruchsbescheid das Vorbringen im bisherigen Gerichtsverfahren Gegenstand des zukünftigen Verfahrens vor dem Landessozialgericht (LSG) sein solle. Mit diesem Vergleich war der Rechtsstreit vor dem Sozialgericht erledigt.

Mit Widerspruchsbescheid vom 20. Mai 2010 wies der Beklagte den Widerspruch der Klägerin gegen seinen Bescheid vom 20. März 2007 zurück und führte zur Begründung unter anderem aus: Die Anwendungsgebiete von Vertigoheel könnten nicht in der Weise ausgelegt werden, dass das Arzneimittel für die Behandlung schwerer bzw. schwerwiegender Verläufe des Schwindels zugelassen sei. Nach den vom Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) im Oktober 2002 herausgegebenen „Kriterien für Erkenntnismaterial zur klinischen Indikationen in der Homöopathie“ seien die Aufbereitungsergebnisse der Kommission D, auf deren Grundlage auch die Zulassung für Vertigoheel erteilt worden sei, als alleiniges Erkenntnismaterial zum Beleg von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit aus heutiger Sicht nicht mehr ausreichend, insbesondere wenn es darum gehe, ein homöopathisches Arzneimittel für die Behandlung von schweren bzw. schwerwiegenden Erkrankungen zuzulassen. Für die Zulassung eines homöopathischen Arzneimittels für die Behandlung schwerer Erkrankungen ergäben sich ausweislich dieses Kriterienpapiers folgende Anforderungen:

1. aktualisiertes wissenschaftliches Erkenntnismaterial unter Einschluss der Monografien der Kommission D, bei Kombinationspräparaten: zusätzlich Kombinationsbegründungen

und zusätzlich

2. nachvollziehbar bewertete Literaturübersicht zur Anwendung des Arzneimittels bei der Indikation und mindestens eine nachvollziehbare klinische Prüfung

Daraus werde deutlich, dass die Privilegierung von Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen (namentlich der Homöopathie) gegenüber den allopathischen Arzneimitteln bezüglich der Anforderungen an den Nachweis von Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dort ihre Grenze finde, wo es um die Zulassung eines Arzneimittels zur Behandlung von schweren Erkrankungen gehe. Für Vertigoheel lägen keine wissenschaftlich einwandfrei geführten randomisierten kontrollierten Studien vor, aus denen mit der erforderlichen Sicherheit geschlossen werden könne, dass Vertigoheel zur Behandlung von schweren bzw. schwerwiegenden Verläufen des Schwindels zugelassen sei. Als Therapiestandard könne Vertigoheel nicht allein wegen der von der Klägerin angegebenen hohen Verordnungszahlen angesehen werden. Keine der von der Klägerseite eingereichten Studien sei geeignet, einen therapeutischen Nutzen von Vertigoheel zur Behandlung von schweren bzw. schwerwiegenden Formen des Schwindels nachzuweisen.

Zur Begründung ihrer am 21. Juni 2010 erhobenen Klage trägt die Klägerin vor: Bei Schwindel handele es sich um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V. Die im o.g. Kriterienpapier erwähnte Definition von „schweren Erkrankungen“ finde keine Anwendung. Schwindel beeinträchtige nicht nur die Lebensqualität auf Dauer nachteilig, sondern führe bereits bei „mittelgradigen Folgen“ zu einer Minderung der Erwerbsfähigkeit von 30 bis 40 und führe bei schweren Folgen zur Anerkennung einer Schwerbehinderung i.S.d. § 2 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Neuntes Buch (SGB IX). An die arzneimittelrechtliche Zulassung von Vertigoheel sei auch der Beklagte gebunden. Die Bewertungskriterien der Kommission D für fixe Kombinationen homöopathischer Arzneimittel vom 24. April 1997 und das Kriterienpapier aus 2002 seien weder dazu geeignet, die Zulassung von Vertigoheel zu relativieren, noch hätten sie im Rahmen von § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V irgendeine Bedeutung. Im Übrigen enthalte die OTC-Übersicht auch Arzneimittel, die Therapiestandard für milde Erkrankungen seien (z.B. Katheterisierung). Hinsichtlich der Frage, wann ein Arzneimittel als Therapiestandard gelte, werde § 12 Abs. 4 AM-RL durch Abs. 6 dieser Vorschrift als Spezialregelung verdrängt, da es für homöopathische Arzneimittel gerade nicht auf den „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis“ ankomme. Maßgebend sei vielmehr der Erkenntnisstand in der jeweiligen Therapierichtung. Ob ein homöopathisches Arzneimittel den Therapiestandard in der Homöopathie darstelle, sei mittels einer an wissenschaftlichen Kriterien orientierten Prüfung zur ermitteln. Die Behauptung, die Homöopathie kennen keinen Therapiestandard, weil die Medikation immer individuell erfolge, sei jedenfalls falsch. Dem Gutachten des Sachverständigen D könne nicht entgegen gehalten werden, dass es dem Therapiestandard anhand einer reinen Vertretbarkeits- und Plausibilitätsprüfung und nicht mittels einer an wissenschaftlichen Kriterien orientierten Prüfung ermittelt habe. In Übereinstimmung mit der herrschenden Auffassung halte der Sachverständige fest, dass zu einem wissenschaftlichen Nachweis des Therapiestandards in der Homöopathie nach den Grundsätzen der evidenzbasierten Medizin nicht nur Studien, sondern auch Expertenmeinungen und klinische Erfahrungswerte herangezogen werden könnten. Unter Bezugnahme auf Studien habe das Gutachten festgestellt, dass Vertigoheel als homöopathischer Therapiestandard der Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung Schwindel entsprechend den Anforderungen der evidenzbasierten Medizin einzustufen sei. Mit der in § 34 Abs. 1 Satz 3 SGB V angeordneten Therapievielfalt sei es unvereinbar, die Verordnungsfähigkeit homöopathischer Arzneimittel im Sinne einer strengen Akzessorietät dem Therapiestandard der allopathischen Medikation bei schwerwiegenden Erkrankungen zu unterwerfen. Anders als in den beiden vom Bundessozialgericht (BSG) zwischenzeitlich entschiedenen Verfahren (Urteile vom 11. Mai 2011, Az.: B 6 KA 25/10 R - „Mistelpräparate“ -, und vom 14. Dezember 2011, Az.: B 6 KA 29/10 R - „Monapax“ -) erstrebe sie – die Klägerin – keine Begünstigung, sondern lediglich eine Gleichbehandlung und Gleichstellung ihres Arzneimittels im Vergleich mit den allopathischen Therapiealternativen bzw. zumindest keine ungerechtfertigte Benachteiligung der OTC-Präparate. Um über eine Aufnahme in die OTC-Übersicht entscheiden zu können, dürfe der Beklagte keine Zweckmäßigkeits- oder Wirtschaftlichkeitsprüfung durchführen. Sei mit dem BSG bei Arzneimitteln der besonderen Therapierichtungen auf den Maßstab der sogenannten Binnenanerkennung abzustellen, komme es nicht mehr auf den allgemeinen anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse an. Vertigoheel zeichne sich auch auf Grund seines geringeren Nebenwirkungs- und Wechselwirkungspotentials durch einen Sicherheits- und Verträglichkeitsvorteil aus, der es von anderen Antivertiginosa abhebe.

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid des Beklagten vom 20. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2010 aufzuheben und festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, die Arzneimittel „Vertigoheel“, „Vertigoheel flüssige Verdünnung zur Injektion „und „Vertigoheelmischungen“ als Standardtherapeutikum zur Behandlung verschiedener Schwindelzustände in die Anlage I der Arzneimittel-Richtlinie aufzunehmen,
hilfsweise,
Beweis zu erheben durch das sachverständige Zeugnis des Prof. Dr. D zu den Fragen, ob die Indikation „Schwindelzustände unterschiedlicher Genese“ oder Teilbereiche dieser Indikation schwerwiegende Erkrankungen darstellen, also aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörungen die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigen und ob der therapeutische Nutzen des streitgegenständlichen Arzneimittels bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht oder ob die Anwendung des streitgegenständlichen Arzneimittels bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen nach dem Erkenntnisstand der Homöophatie als Therapiestandard angezeigt ist.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die angefochtenen Bescheide für zutreffend und bringt ergänzend vor: Es handele sich bei den Schwindelzuständen in den vom Anwendungsbereich der in Rede stehenden Arzneimittel eingeschlossenen leichten bis mittelschweren Erscheinungsformen des Schwindels schon nicht um eine schwerwiegende Erkrankung. Eine uneingeschränkte Aufnahme aller symptomatischen Schwindelzustände losgelöst von der Zuordnung zu spezifischen (schwerwiegenden) Beschwerdebildern und deren Ursache widerspreche schon dem Gebot der hinreichenden Bestimmtheit seiner – des Beklagten – Regelungen. Unter dem Oberbegriff des Schwindels werde eine Vielzahl von unterschiedlichen Beschwerdebildern zusammengefasst. Der von der Klägerin beworbenen Zweckbestimmung der streitgegenständlichen Arzneimittel lasse sich entnehmen, dass mit dem Anwendungsgebiet „Schwindelzustände unterschiedlicher Genese“, abgeleitet von den homöopathischen Arzneimittelbildern, vorrangig die Behandlung von sog. Altersschwindel in Betracht zu ziehen sei. Unter Zugrundelegung der Anwendungsgebiete seiner homöopathischen Einzelmittel Anamirta cocculus, Conium maculatum, Ambra grisea und Petroleum rectificatum sei das Anwendungsgebiet von Vertigoheel auf die Behandlung von leichten Formen des Symptoms Schwindel im Rahmen der Selbstmedikation beschränkt. Der in leichter Ausprägung auftretende unspezifische Schwindel unklarer Ursache erfülle für sich genommen schon nicht die definitorischen Voraussetzungen für eine schwerwiegende Erkrankung. Zur Behandlung von schwerwiegenden Beschwerdesymptomatiken des Schwindels sei Vertigoheel auch nicht geeignet. Denn auf Veranlassung der Zulassungsbehörde habe das Anwendungsgebiet folgenden einschränkenden Hinweis erhalten:

„Bei anhaltenden und unklaren Beschwerden sollte ein Arzt aufgesucht werden, da es sich um Erkrankungen handeln kann, die eine ärztliche Abklärung und Behandlung erfordern.“

Ihm – dem Beklagten – stehe bei der abschließenden Bewertung von Studien nach Ermittlung des Standes der medizinischen Erkenntnisse ein Gestaltungs- und Beurteilungsspielraum zu. Hinsichtlich des zu fordernden wissenschaftlichen Erkenntnismaterials habe bereits der Sachverständige zum Ausdruck gebracht, dass gerade im Bereich homöopathischer Präparate „wissenschaftliche Studien auf Grund der seit Markteinführung guten Verordnungs- und Absatzzahlen bei Ärzten so wie der hohen Erstellungskosten von Studien nicht in der Vielzahl durchgeführt wurden und vorliegen, wie es bei schulmedizinischen Medikamenten der Fall ist.“ Weder den einschlägigen Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Neurologie noch allgemeinen Übersichtsarbeiten über eine sinnvolle Diagnostik und Therapie des Symptoms Schwindel lasse sich ein hinreichender Hinweis auf einen therapeutischen Nutzen von Vertigoheel zur Behandlung von schwerwiegenden Schwindelzuständen entnehmen. Aus den von der Klägerseite zitierten Entscheidungen des BSG aus dem Jahre 2011 sei abzuleiten, dass für Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen aus dem Gebot, der spezifischen Wirkungsweise der besonderen Therapierichtungen Rechnungen zu tragen, keine Privilegien gegenüber anderen Arzneimitteln (der Allopathie) abgeleitet werden könnten. Das Gebot, der therapeutischen Vielfalt Rechung zu tragen, beschränke sich also auf die Rücksichtnahme auf die Eigenheiten der besonderen Therapierichtungen im Rahmend der Möglichkeiten der gesetzlichen Vorschriften. Die Grundsätze der evidenzbasierten Medizin seien bei der Frage nach dem Therapiestandard in der Homöopathie nicht suspendiert. Als schwerwiegende Erkrankung könnten allenfalls auf Grund des Beschwerdebildes bestimmte Verlaufsformen, nämlich solche, die mit schweren Symptomausprägungen des Schwindels einhergehen, angesehen werden.

Wegen des Sach- und Streitstandes im Einzelnen sowie wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte verwiesen.

Entscheidungsgründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Beklagte hat es zu Recht abgelehnt, die Arzneimittel Vertigoheel, Vertigoheel flüssige Verdünnung zur Injektion und Vertigoheel Mischung in die Anlage I der AM-RL, die OTC-Übersicht, aufzunehmen. Denn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür sind nicht gegeben.

A. Die Klage ist mit dem Hauptantrag zulässig.

I. Sie ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage statthaft.

Der Anfechtung im Sinne von § 54 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. Sozialgerichtsgesetz (SGG) unterliegt der Bescheid des Beklagten vom 20. März 2007 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. Mai 2010. Durch diese Bescheide hat der Beklagte der Klägerin in schriftlicher Form mit Verfügungssatz und Begründung die Beschlussfassungen vom 15. März 2007 bzw. vom 20. Mai 2010 bekannt gegeben. Das klägerische Begehren umfasst daher in einem ersten Schritt die Aufhebung dieser Bescheide, die den Antrag auf Aufnahme der o.g. Arzneimittel in die Anlage I der AM-RL ablehnen.

Als weiterer Schritt ist die Klage als Feststellungsklage (§ 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG) statthaft. Allein diese Klageart wird dem Umstand gerecht, dass die Klägerin von der Beklagten nicht die Vornahme eines Realakts oder den Erlass eines Verwaltungsakts begehrt; diese Begehren zögen eine Leistungs- bzw. Verpflichtungsklage nach sich. Die Klägerin zielt mit der Aufnahme der o.g. Arzneimittel in die Anlage I der AM-RL vielmehr auf einen Akt der Normsetzung, denn bei den Regelungen der AM-RL gemäß § 92 Abs. 1 Satz 1, Satz 2 Nr. 6 SGB V und ihrer Anlagen handelt es sich um verbindliche untergesetzliche Normen (vgl. § 91 Abs. 6 SGB V; st. Rspr., siehe nur BSG, Urteile vom 20. März 1996, Az.: 6 RKa 62/94, und vom 3. Juli 2012, Az.: B 1 KR 23/11 R – „Gepan Instill“ –, beide veröffentlicht in Juris ).

Mit der fachgerichtlichen Feststellungsklage kann aber nicht nur die Unwirksamkeit einer untergesetzlichen Rechtsnorm, sondern auch deren fehlerhafte Auslegung oder Anwendung sowie – hierauf zielt die vorliegende Klage – ein Anspruch auf deren Änderung oder Ergänzung geltend gemacht werden (vgl. BSG, Urteil vom 14. Dezember 2011, Az.: B 6 KA 29/10 R – Monapax –, veröffentlicht in Juris). Diese Sichtweise geht zurück auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG), das die Notwendigkeit einer (seiner Inanspruchnahme vorgeschalteten) fachgerichtlichen Feststellungsklage gegen untergesetzliche Normen aus dem Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG ableitet (Beschluss vom 17. Januar 2006, Az.: 1 BvR 541/02, 1 BvR 542/02, veröffentlicht in Juris).

Dementsprechend kann die Klage nicht auf eine Verurteilung des Beklagten zur Aufnahme der o.g. Arzneimittel in die Anlage I der AM-RL gerichtet sein, sondern nur darauf festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, diese Arzneimittel als Standardtherapeutikum zur Behandlung von Schwindel in Anlage I der AM-RL gemäß § 34 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V aufzunehmen. Für den Fall fehlender Spruchreife ist hierin als Minus das Begehren umfasst, gegebenenfalls festzustellen, dass der Beklagte verpflichtet ist, über den Antrag der Klägerin unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats neu zu entscheiden.

II. Die Klage ist mit dem Hauptantrag auch im Übrigen zulässig.

Das für die Erhebung der Anfechtungsklage erforderliche Vorverfahren (§ 78 Abs. 1 Satz 1 SGG) ist durchgeführt. Die einmonatige Klagefrist (§ 87 SGG) ist gewahrt.

Die Klägerin ist klagebefugt (§ 54 Abs. 1 Satz 2 SGG) und verfügt über ein berechtigtes Interesse an der Feststellung (§ 55 Abs. 1, 2. Halbs. SGG), denn es ist nicht schlechthin ausgeschlossen, dass die Ablehnung der Aufnahme des streitigen Arzneimittels in die Anlage I der AM-RL rechtswidrig ist bzw. dass die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Aufnahme erfüllt sind (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Der geltende Leistungsausschluss nach § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V berührt die Klägerin in ihrem Grundrecht auf freie Berufsausübung aus Art. 12 Abs. 1 GG (vgl. Beck, in: jurisPK-SGB V, § 34, Rd. 41).

B. Die Klage ist mit ihrem Hauptantrag jedoch unbegründet. Im Ergebnis zu Recht hat der Beklagte den Antrag der Klägerin abgelehnt, die o.g. Arzneimittel als Standardtherapeutika zur Behandlung von Schwindel in die Anlage I der AM-RL aufzunehmen.

I. Im Rahmen der auf Ergänzung einer Norm gerichteten Feststellungsklage hat der Senat grundsätzlich einen engen Prüfungsmaßstab anzulegen und Zurückhaltung zu üben gegenüber der Normsetzungskompetenz des Beklagten. Andererseits ist der Maßstab für eine Überprüfung administrativer Normsetzung strenger als bei derjenigen von Parlamentsgesetzen durch die Verfassungsgerichtsbarkeit; die Zurückhaltung etwa des BVerfG gegenüber dem parlamentarischen Gesetzgeber muss eine andere sein als diejenige der Fachgerichtsbarkeit bei der Kontrolle von Rechtsnormen der Verwaltung. Die im Rang unterhalb des einfachen Gesetzesrechts stehenden Richtlinien des Beklagten sind damit gerichtlich in der Weise zu prüfen, wie wenn der Bundesgesetzgeber derartige Regelungen in Form einer untergesetzlichen Norm – etwa einer Rechtsverordnung – selbst erlassen hätte (vgl. BSG, Urteile vom 3. Juli 2012, Az.: B 1 KR 23/11 R – „Gepan Instill“ –, vom 6. März 2012, Az.: B 1 KR 24/10 R – „Linola“ –, und vom 1. März 2011, B 1 KR 7/10 R – „Sortis“ –, alle veröffentlicht in Juris; Gerhardt/Bier, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 147, Rd. 140).

Hiervon ausgehend ist die vom Beklagten bewirkte Normsetzung (bzw. die Ablehnung einer Normergänzung) darauf zu überprüfen, ob sich die untergesetzliche Norm auf eine ausreichende Ermächtigungsgrundlage stützen kann (unten II.), ob die spezifischen Verfahrens- und Formvorschriften eingehalten sind (unten III.), ob die Tatbestandsvoraussetzungen der Ermächtigungsnorm erfüllt sind (unten IV.) und ob die Grenzen eines gegebenenfalls bestehenden und zu respektierenden Gestaltungsspielraums – etwa in Bezug auf höherrangiges Recht – eingehalten sind (unten V.; vgl. BSG, Urteile vom 31. Mai 2006, Az.: B 6 KA 13/05 R – „Clopidogrel“ –, und vom 3. Juli 2012, Az.: B 1 KR 23/11 R – „Gepan Instill“ –; so auch schon Senat, Urteil vom 21. Dezember 2011, Az.: L 7 KA 77/10 KL – „ Mindestmenge Perinatalzentren“ –, alle veröffentlicht in Juris).

II. 1. Gemäß § 34 Abs. 1 Satz 1 SGB V in der seit dem 1. Januar 2012 geltenden, hier maßgeblichen Fassung (insoweit weitgehend identisch mit der zum 1. Januar 2004 in Kraft getreten Fassung des GMG vom 14. November 2003, BGBl. I S. 2190)sind nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel von der Versorgung nach § 31 SGB V ausgeschlossen. Der Gemeinsame Bundesausschuss legt in den Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V fest, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Erkrankungen mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden können (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V).

2. Der so geregelte grundsätzliche Ausschluss nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel aus dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verstößt nicht gegen Verfassungsrecht (BVerfG, Beschluss vom 12. Dezember 2012, Az.. 1 BvR 69/09 sowie BSG, Urteil vom 6. November 2008, Az.: B 1 KR 6/08 R – „Gelomyrtol forte“ –, beide veröffentlicht in Juris).

3. Es ist verfassungsrechtlich auch nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber den Beklagten beauftragt hat, in Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V festzulegen, welche nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen als Therapiestandard gelten, zur Anwendung bei diesen Erkrankungen mit Begründung vom Vertragsarzt ausnahmsweise verordnet werden können (hierzu BSG a.a.O.). Es ist dem Gesetzgeber nicht verwehrt, zur Sicherung der Qualität der Leistungserbringung, im Interesse einer Gleichbehandlung der Versicherten und zum Zweck der Ausrichtung der Leistungen am Gesichtspunkt der Wirtschaftlichkeit ein Verfahren vorzusehen, in dem neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie ihre medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit nach dem jeweiligen Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse sachverständig geprüft werden, um die Anwendung dieser Methoden zu Lasten der GKV auf eine fachlich-medizinisch zuverlässige Grundlage zu stellen. Nichts anderes gilt für die Abgrenzung des Pharmakotherapiestandards für schwerwiegende Erkrankungen durch die AM-RL.

III. Dass dem Beklagten bei Ablehnung des Antrags der Klägerin, Vertigoheel in die Anlage I zur AM-RL aufzunehmen, Verfahrensfehler unterlaufen wären, wird von der Klägerseite nicht geltend gemacht und ist auch nicht anderweitig ersichtlich.

IV. Die in § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V genannten notwendigen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Aufnahme eines nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels in die Anlage I der AM-RL liegen nicht vor. Bei dem von der Klägerin angeführten Anwendungsgebiet „Schwindelzustände verschiedener Genese“ handelt es sich um keine schwerwiegende Erkrankung (unten 3.). Die unter der Bezeichnung Vertigoheel verkehrsfähigen Arzneimittel können insoweit auch nicht als Therapiestandard gelten (unten 4.). Das Vorliegen dieser Tatbestandsvoraussetzungen unterliegt der vollständigen Überprüfung durch den Senat (unten 2.).

1. Zugunsten der Klägerin kann der Senat unterstellen, dass ihrem Begehren arzneimittelrechtlich keine Hindernisse entgegenstehen.

a. Eine aktuelle arzneimittelrechtliche Zulassung ist nach dem derzeitigen Sachstand nur für Vertigoheel flüssige Verdünnung zur Injektion und Vertigoheel Mischung nachgewiesen. Die für Vertigoheel Tablette unter dem 28. März 2003 verlängerte Zulassung ist wegen des Ablaufs der Fünf-Jahres-Frist (§ 31 Abs. 1 Nr. 3 AMG) zwischenzeitlich erloschen. Zugunsten der Klägerin unterstellt der Senat, dass rechtzeitig ein Verlängerungsantrag gestellt, aber darüber noch nicht bestandskräftig entschieden wurde.

b. Der Senat geht ferner zugunsten der Klägerin davon aus, dass alle o.g. Arzneimittel auch zur Behandlung schwerer Schwindelzustände zugelassen sind. Die dem Senat vorliegenden arzneimittelrechtlichen Bescheide enthalten insoweit keine Beschränkung auf leichte oder mittelschwere Erscheinungsformen von Schwindel. Die vom Beklagten vertretene Auffassung, ein von einer Kommission nach § 25 Abs. 7 AMG erarbeiteter Kriterienkatalog sei geeignet, Rechtspositionen, die durch bestandskräftige Entscheidungen des BfArM erlangt wurden, auch ohne Aufhebungs- oder Änderungsbescheid nach §§ 48, 49 Verwaltungsverfahrensgesetz teilweise zu entziehen (hier: Beschränkung des Anwendungsgebiets von Vertigoheel auf leichten Schwindel), ist mit dem geltenden Recht unvereinbar. Denn es fehlt an einer parlamentsgesetzlichen Rechtsgrundlage, die den Kommissionen nach § 25 Abs. 7 AMG die vom Beklagten angenommene Befugnis einräumt.

2.Die in § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V für die Aufnahme eines nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels in die Anlage I zur AM-RL normierten Tatbestandsvoraussetzungen (Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung, Therapiestandard) sind vom Senat vollständig überprüfbar; der Gesetzgeber belässt dem Beklagten bei der Entscheidung über diese Voraussetzungen keinen Gestaltungsspielraum (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 6. März 2012, Az.: B 1 KR 24/10 R, a.a.O.). Art. 19 Abs. 4 GG erlaubt und gebietet zugleich eine vollständige gerichtliche Überprüfung, denn das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale des § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V ist ohne Weiteres einer sachgerechten Überprüfung auch durch ein Gericht zugänglich.

3. Die Klägerin hat die Aufnahme von Vertigoheel, Vertigoheel flüssige Verdünnung zur Injektion und Vertigoheel Mischung (im Folgenden vereinfachend: Vertigoheel) in die Anlage I der AM-RL beantragt für das von der arzneimittelrechtlichen Zulassung umfasste Anwendungsgebiet „verschiedene Schwindelzustände“. Auf dieses (allgemeine) Anwendungsgebiet hat sich die Bescheidung durch den Beklagten erstreckt; auch der Senat hat im Rahmen des Hauptantrages die gesetzlichen Voraussetzungen (nur) für dieses Anwendungsgebiet zu prüfen.

Schwindelzustände stellen in dieser Allgemeinheit keine schwerwiegende Erkrankung im Sinne von § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V dar.

a) In § 12 Abs. 3 der AM-RL und in § 33 Abs. 1 Satz 1 des 4. Kapitels seiner Verfahrensordnung (VerfO) beschreibt der Beklagte eine Erkrankung als schwerwiegend, wenn „sie lebensbedrohlich ist oder wenn sie aufgrund der Schwere der durch sie verursachten Gesundheitsstörung die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“. Bei einer nicht lebensbedrohlichen Erkrankung setzt eine Anerkennung als schwerwiegend voraus, dass sie von ihrer Schwere und dem Ausmaß der aus ihr folgenden Beeinträchtigungen her jenen Krankheiten gleichgestellt werden kann (4. Kapitel, § 33 Abs. 1 Satz 2 VerfO).

Diese Begriffsbestimmung hält der Senat für sachgerecht. Auch in der Kommentarliteratur ist die Herangehensweise des Beklagten an den Begriff der schwerwiegenden Erkrankung nicht kritisiert worden (vgl. Beck, a.a.O. Rd. 15; Gerlach, in: Hauck/Haines, SGB V, § 34, Rd. 15; Kraftberger, in LPK-SGB V, § 34, Rd. 4). Sie orientiert sich in nicht zu beanstandender Weise an der vom BSG entwickelten Begrifflichkeit zur Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln außerhalb ihrer arzneimittelrechtlichen Zulassung (Off-Label-Use). In beiden Fällen geht es um die Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln zu Lasten der GKV in Ausnahmefällen. Eines Rückgriffs auf Begrifflichkeiten aus anderen Bereichen des (Sozial-)Rechts, etwa anhand versorgungsmedizinischer Grundsätze, bedarf es daher zur Bestimmung der „schwerwiegenden Erkrankung“ nicht.

Ein Off-Label-Use kommt nach ständiger Rechtsprechung des BSG (Urteil vom 19. März 2002, Az.: B 1 KR 37/00 R – „Sandoglobulin“ –; zuletzt Urteil vom 3. Juli 2012, Az.: B 1 KR 25/11 R – „Avastin“ –, beide veröffentlicht in Juris) nur in Betracht, wenn es (1.) um die Behandlung einer schwerwiegenden (lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden) Erkrankung geht, wenn (2.) keine andere Therapie verfügbar ist und wenn (3.) aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass mit dem betreffenden Präparat ein Behandlungserfolg (kurativ oder palliativ) erzielt werden kann.

Es ist nicht ersichtlich, warum der Begriff „schwerwiegend“ in § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V wertungsmäßig anders verstanden werden sollte als in der ständigen Rechtsprechung zum Off-Label-Use, nämlich als lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung. Erst recht gilt diese parallele Geltung bzw. Auslegung desselben unbestimmten Rechtsbegriffs angesichts der mit dem GKV-WSG vom 26. März 2007 (BGBl. I S. 378) mit Wirkung vom 1. April 2007 eingeführten Neuregelung in § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V. Dort hat der Gesetzgeber den vom BSG entwickelten Begriff der schwerwiegenden Erkrankung für die „Off-Label-Versorgung“ von Versicherten übernommen, so dass in § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V und in § 35c Abs. 2 Satz 1 SGB V nunmehr derselbe und identisch auszulegende Begriff zu finden ist; der Gesetzgeber hat diesen rechtstechnisch eingeführten Begriff gewählt, um die Erheblichkeitsschwelle der betroffenen Krankheiten für den GBA zu umreißen (vgl. BSG, Urteil vom 6. März 2012, a.a.O.).

Gleichzeitig ist zu beachten, dass „schwerwiegend“ im hier gemeinten Sinne auch nicht zu einengend im Sinne ausschließlich „schwerster“ notstandsähnlicher Erkrankungen verstanden werden darf. Der Grad der „schwerwiegenden Erkrankung“ im Sinne der herkömmlichen Rechtsprechung zur Statthaftigkeit des Off-Label-Use stimmt nicht überein mit der Leidensschwelle, die erreicht sein muss, um das Leistungsrecht der GKV im Sinne der „Nikolaus“-Rechtsprechung des BVerfG (Beschluss vom 6. Dezember 2005, 1 BvR 347/98) grundrechtskonform erweiternd auszulegen. Das Kriterium einer Krankheit, die zumindest mit einer „lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankung“ in der Bewertung vergleichbar ist, umschreibt nämlich eine strengere Voraussetzung, als sie mit dem Erfordernis einer „schwerwiegenden Erkrankung“ für die Eröffnung des Off-Label-Use formuliert ist (BSG, Urteil vom 8. November 2011, Az.: B 1 KR 19/10 R, – „Botulinumtoxin A“ –, veröffentlicht in Juris).

b) Eine schwerwiegende, d.h. lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung liegt bei dem von der Klägerin angestrebten Einsatzfeld („Schwindelzustände verschiedener Genese“ bzw. „verschiedene Schwindelzustände“) für Vertigoheel nicht vor.

aa) Schwindel ist grundsätzlich keine Krankheit, sondern als sog. Leitsymptom Ausdruck von Störungen der vestibulären, zerebellären und/oder okulomotorischen Systeme. Hinzu kommen somatoforme Schwindelsyndrome, die primär oder sekundär auftreten können (vgl. die S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zum Thema „Schwindel – Therapie, 4.Auflage, 2008, veröffentlicht unter www.awmf.org, recherchiert am 20. März 2013). Beschrieben werden u.a. Dreh-, Schwank-, Lift-, Bewegungs- und unsystematischer Schwindel. Dementsprechend findet sich der Schwindel in der Internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10, in der jeweiligen vom Deutschen Institut für medizinische Dokumentation und Information im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit herausgegebenen deutschen Fassung; vgl. § 116b Abs. 4 Satz 2, § 295 Abs. 1 Satz 2, § 301 Abs. 2 Satz 1 SGB V) nicht nur in Kapitel XVIII („Symptome und abnorme klinische und Laborbefunde, die anderenorts nicht klassifiziert sind“) unter der Schlüsselnummer R 42 („Schwindel und Taumel“), sondern mehrfach auch in den Untergruppen H 81 („Störungen der Vestibularfunktion“) und H 82 („Schwindelsyndrome bei anderenorts klassifizierten Krankheiten“), als spezielle Erscheinung (z.B. A 88.1 „epidemischer Schwindel“) oder eben als Symptom (bei der Panikstörung <F 41.0>, der generalisierten Angststörung <F41.1>, der Neurasthenie <F 48.0> und Schäden durch Vibration <F 75.2>).

Zwar ist zwischen den Beteiligten zu Recht nicht umstritten, dass – wie bei den meisten anderen Krankheiten auch – neben leichten und mittleren Erscheinungsformen von Schwindel auch schwere auftreten. So hat der Sachverständige D die Schwindelsymptomatik u.a. dann für gefährlich und bedrohlich gehalten, wenn sie mit (z.T. plötzlich auftretender) Gang- und Standunsicherheit einhergeht und daher zu Stürzen und schwerwiegenden Verletzungen führen kann. Wissenschaftlich anerkannte Kriterien, wann Schwindelzustände schwer(wiegend) sind, oder gar eine Klassifikation finden sich indes nicht. Im vorliegenden Fall steht aber auch nur im Streit, ob Schwindel allgemein, d.h. ohne Differenzierung nach dem Schweregrad und somit unter Einschluss leichter und mittelschwerer Zustände, eine schwerwiegende Erkrankung i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V darstellt.

bb) Schwindelzustände allgemein stellen keine lebensbedrohliche Erkrankung dar. Gegenteiliges wird auch von der Klägerin nicht behauptet. Es handelt sich aber auch um keine Erkrankung, die die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt, denn die notwendige Erheblichkeitsschwelle ist nicht erreicht.

(1) Soweit das Symptom Schwindel differentialdiagnostisch nicht einer Krankheit aus den o.g. Untergruppen R 42, H 81 oder H 82 zugeordnet werden kann, scheitert das klägerische Begehren allerdings nicht schon daran, dass nach den gesetzlichen Vorgaben (§ 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V) in die OTC-Übersicht nur Arzneimittel zur Behandlung schwerwiegender Erkrankungen, nicht aber schon bestimmter Symptome aufgenommen werden können. Denn in die OTC-Übersicht hat der Beklagte auch schwerwiegende Krankheitssymptome aufgenommen (z.B. Nr. 3.: „Acetylsalicylsäure und Paracetamol nur zur Behandlung schwerer und schwerster Schmerzen in Co-Medikation mit Opioiden“). Dies wird auch dem Zweck der Vorschrift gerecht. Einzelne Erkrankungen können sowohl leichte als auch schwere Ausprägungen haben; diese sind jeweils an der Schwere der Symptome zu messen, so dass auch für die Aufnahme in die OTC-Übersicht nach § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V eine Anknüpfung an den Ausprägungsgrad der Symptome sachgerecht ist.

(2) Der Senat geht weiter davon aus, dass nicht schon jegliches Leiden „die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“; vielmehr hat das BSG, das die vom Gesetzgeber übernommene Begrifflichkeit entwickelt hat, die Anforderungen im Rahmen des Off-Label-Use bewusst eng formuliert. Denn auch bei diesem geht es – wie im vorliegenden Zusammenhang – um eine Ausnahmesituation (vgl. Flint, in: Hauck/Haines, SGB V, Rdnr. 25 zu § 35c), die verlangt, dass eine Anwendung des Arzneimittels nur bei einer solchen Erkrankung in Betracht kommt, die sich durch ihre Schwere oder Seltenheit vom Durchschnitt der Erkrankungen abhebt (so ausdrücklich BSG, Urteil vom 26. September 2006, Az.: B 1 KR 1/06 R, veröffentlicht in Juris).

Als Indikator für die Beurteilung einer solchen Erkrankung (schwerwiegend und sich aufgrund ihrer Schwere vom Durchschnitt sonstiger Erkrankungen abhebend) kann auf die bisherige Rechtsprechung des BSGs zum Off-Label-use zurückgegriffen werden. Das BSG hat eine „schwerwiegende Erkrankung“ u.a. bei folgenden Erkrankungen bejaht:

- Schwere Verlaufsform der Neurodermitis (Urteil vom 6. März 2012, Az.: B 1 KR 24/10 R, veröffentlicht in Juris),

- fortgeschrittene Bronchialkarzinome und Tumore der Thoraxorgane (Urteil vom 13. Oktober 2010, Az.: B 6 KA 48/09 R, veröffentlicht in Juris),

- metastasierendes Karzinom der Eileiter (Urteil vom 5. Mai 2010, Az.: B 6 KA 6/09 R, veröffentlicht in Juris),

- sekundäre pulmonale Hypertonie bei CREST-Syndrom im Stadium IV (Urteil vom 26. September 2006, Az.: B 1 KR 1/06 R, veröffentlicht in Juris),

- Restless-Legs-Syndrom mit massiven Schlafstörungen und daraus resultierenden erheblichen körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen (Urteil vom 26. September 2006, Az.: B 1 KR 14/06 R, veröffentlicht in Juris),

- Myoadenylate-Deaminase-Mangel mit belastungsabhängigen, muskelkaterähnlichen Schmerzen, schmerzhaften Muskelversteifungen und (sehr selten) Untergang von Muskelgewebe (Urteil vom 4. April 2006, Az.: B 1 KR 12/04 R, veröffentlicht in Juris),

- Multiple Sklerose (Urteil vom 19. März 2002, Az.: B 1 KR 37/00 R, veröffentlicht in Juris).

(3) Der aus dieser Kasuistik sprechende Schweregrad ist von den hier in Frage stehenden „verschiedenen Schwindelzuständen“ nicht erreicht. Auch dem Vorbringen der Klägerin ist nicht zu entnehmen, dass jede Form von Schwindel „die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigt“.

Weil die Klägerin die Aufnahme von Vertigoheel in die OTC-Übersicht beschränkt auf die Indikation „schwere Schwindelzustände“ nicht beantragt hat und dieser Antrag, der in einem eigenständigen Verwaltungsverfahren zu prüfen wäre, nicht etwa auch als Minus in dem gestellten Antrag enthalten ist, war ihr Antrag auf Aufnahme in die OTC-Übersicht zwingend abzulehnen.

4. Unabhängig davon hat der Beklagte zu Recht angenommen, Vertigoheel sei nicht der Therapiestandard zur Behandlung von Schwindelzuständen.

a) Nach § 12 Abs. 4 AM-RL bzw. dem 4. Kapitel, § 34 Abs. 1 Satz 1 VerfO gilt ein Arzneimittel als Therapiestandard, wenn der therapeutische Nutzen zur Behandlung der schwerwiegenden Erkrankung dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht (vgl. zur Tragfähigkeit dieses Ansatzes BSG, Urteil vom 6. März 2012, Az.: B 1 KR 24/10 R – „Linola“ –,veröffentlicht in Juris). Nach dem 4. Kapitel, § 34 Abs. 1 Satz 2 VerfO ist auf der Basis systematischer Literaturrecherchen nachzuweisen, dass ein durch wissenschaftliche Studien hinreichend untermauerter Konsens in den einschlägigen Fachkreisen über den Nutzen des nicht verschreibungspflichtigen Arzneimittels zur Behandlung einer schwerwiegenden Erkrankung bestehe; vorrangig seien klinische Studien, insbesondere direkt vergleichende mit patientenrelevanten Endpunkten, insbesondere Mortalität, Morbidität und Lebensqualität, zu berücksichtigen. Den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse ermittelt der Beklagte auf der Grundlage der evidenzbasierten Medizin (1. Kapitel § 5 Abs. 2 VerfO). Die Bewertung des (therapeutischen) Nutzens eines Arzneimittels nimmt der Beklagte auf der Grundlage von Unterlagen entweder zum Ausmaß des therapeutischen Nutzens des Arzneimittels bei einer bestimmten Indikation oder durch Vergleich mit anderen Arzneimitteln oder Behandlungsformen unter Berücksichtigung des therapeutischen Zusatznutzens für die Patientinnen oder Patienten vor. Maßgeblich für die Beurteilung des (therapeutischen) Nutzens ist dabei das Ausmaß der Beeinflussung patientenrelevanter Endpunkte, insbesondere Morbidität, Mortalität und Lebensqualität (4. Kapitel § 6 Absätze 1 und 2 VerfO). Allein diese Vorschriften bestimmen, anhand welcher Erkenntnisquellen der Beklagte über die Frage des Therapiestandards zu entscheiden hat.

b) Welche Bedeutung in diesem Zusammenhang § 12 Abs. 6 AM-RL zukommt, muss der Senat nicht abschließend entscheiden. Nach dieser Bestimmung kann die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt für die in der Anlage I der AM-RL aufgeführten Indikationsgebiete bei schwerwiegenden Erkrankungen auch Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie verordnen, sofern die Anwendung dieser Arzneimittel für diese Indikationsgebiete und Anwendungsvoraussetzungen nach dem Erkenntnisstand als Therapiestandard in der jeweiligen Therapierichtung angezeigt ist. Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt hat zur Begründung der Verordnung die zugrunde liegende Diagnose in der Patientendokumentation aufzuzeichnen. Der Senat hegt Bedenken an der von der Klägerin vertretenen Auffassung, diese Vorschrift verdränge als lex specialis die in § 12 Abs. 4 AM-RL enthaltenen Regelungen insgesamt (so möglicherweise auch BSG, Urteil vom 11. Mai 2011, Az.: B 6 KA 25/10 R – „Mistelpräparate“ -, veröffentlicht in Juris, wonach die wortgleiche Vorgängerregelung in Nr. 16.5 AM-RL i.d.F. vom 16. März 2004 eine Sonderregelung für die Arzneimittel der Anthroposophie und Homöopathie darstelle).

aa) Gegen diese Auslegung spricht aus Sicht des Senats zunächst eine grammatikalische Auslegung von § 12 Abs. 6 Satz 1 AM-RL. Welche Anforderungen an den darin erwähnten „Erkenntnisstand“ zu stellen sind, ergibt sich aus der Vorschrift selbst nicht. Erkenntnisstand in deren Sinne ist daher der sich aus den allgemeinen Regelungen, d.h. hier: § 12 Abs. 4 AM-RL, ergebende. Mit anderen Worten: der Erkenntnisstand i.S.v. § 12 Abs. 6 Satz 1 AM-RL entspricht dem „allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse“ nach Abs. 4 der Vorschrift. Demgegenüber liest die Klägerin diese Vorschrift i.S.v. „nach dem Erkenntnisstand in der jeweiligen Therapierichtung“ (so wohl auch BSG, Urteil vom 11. Mai 2011, a.a.O., zu Nr. 16.5 AM-RL i.d.F. vom 16. März 2004). Wäre § 12 Abs. 6 Satz 1 AM-RL so formuliert, spräche dies in der Tat für abweichende Anforderungen an das Erkenntnismaterial bzw. dessen Bewertung, z.B. innerhalb der Homöopathie.

bb) Auf der Grundlage einer systematischen Auslegung auf der Ebene der untergesetzlichen Normen sieht der Senat seine Zweifel bestätigt. Würde § 12 Abs. 6 AM-RL Abs. 4 dieser Vorschrift verdrängen, hätte der Beklagte konsequenterweise eine entsprechende, aus Klägersicht vorrangige Bestimmung auch in seine Verfahrensordnung aufnehmen müssen. Allerdings enthält die Verfahrensordnung gerade keine Regelung, die die Annahme nahelegt, der Beklagte habe die an das Erkenntnismaterial zu stellenden Anforderungen für den Bereich homöopathischer Arzneimittel (oder allgemein: Arzneimittel der besonderen Therapierichtungen) anders definieren wollen als für allopathische Arzneimittel. Aus welchen Gründen der Beklagte bei der Beschlussfassung über die AM-RL hiervon abweichen sollte, ist nicht ersichtlich.

cc) Auch die parlamentsgesetzlichen Vorgaben dürften das von der Klägerin favorisierte Ergebnis nicht stützen.

(1) Das Verhältnis zwischen § 34 Abs 1 Satz 2 SGB V und Satz 3 dieser Vorschrift hat der Gesetzgeber so geregelt, dass er die Vorgaben des Satzes 2 vorangestellt hat und ihnen die Regelung des Satzes 3 in der Weise angeschlossen hat, dass "dabei … der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen" ist. Daraus ergibt sich ein Vorrang der Vorgaben des Satzes 2: Nur in deren Rahmen ist die therapeutische Vielfalt zu berücksichtigen (vgl. BSG a.a.O.; Urteil vom 11. Dezember 2011, Az.: B 6 KA 29/10 R – „Monapax“ –, veröffentlicht in Juris). Das Gebot, der therapeutischen Vielfalt Rechnung zu tragen, bedeutet insbesondere, dass die Eigenheiten besonderer Therapierichtungen – soweit dies im Rahmen der gesetzlichen Vorschriften möglich ist – zu berücksichtigen sind. Bei der Bewertung der Qualität und Wirksamkeit von Behandlungsmethoden und Medikationen ist deshalb der Erkenntnisstand der jeweiligen Therapierichtung, also die aus Sicht der Therapierichtung gegebene besondere Wirksamkeit zugrunde zu legen (Maßstab der sog. Binnenanerkennung; BSG a.a.O., jeweils m.w.N.). Letzteres betrifft allerdings, was die Bewertung von Arzneimitteln anbelangt, nicht primär den Beklagten. Denn Qualität und Wirksamkeit eines Arzneimittels werden bereits arzneimittelrechtlich von den insoweit zuständigen Behörden im Rahmen des Zulassungsverfahrens geprüft (vgl. § 25 Abs. 2 Nr. 3 und 4 AMG). Hieran knüpft das Recht der GKV ohne erneute Prüfung dieser beiden Kategorien an (BSG, Urteil vom 1. März 2011, Az.: B 1 KR 7/10 R, Rd. 29, veröffentlicht in Juris), sodass der Beklagte nicht berechtigt ist, hiervon im Rahmen seiner Aufgaben nach dem SGB V abzuweichen. Eigenständig, weil arzneimittelrechtlich nicht vorgesehen, prüft der Beklagte hingegen die Wirtschaftlichkeit und den Nutzen von Arzneimitteln, soweit er hierzu nach dem Recht der GKV ermächtigt wurde. Ob auch insoweit der Maßstab der Binnenanerkennung gilt bzw. der Senat insoweit von der Rechtsprechung des BSG abweicht, kann an dieser Stelle jedoch dahin stehen.

(2) Jedenfalls gebietet das SGB V keine Privilegierung der besonderen Therapierichtungen, soweit es auf die Anforderungen an das Erkenntnismaterial bzw. dessen Bewertung ankommt.

(a) In der Rechtsprechung des BSG wurden bislang eine Privilegierung homöopathischer Arzneimittel abgelehnt, soweit ein Therapiestandard i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V nur für den palliativen Bereich angenommen wurde (Urteil vom 11. Mai 2011 – „Mistel-Präparate“ –, a.a.O.) und soweit Hustenmittel, die Expektorantien und Antitussiva als fixe Kombination enthalten, von der Verordnungsfähigkeit ausgeschlossen wurden (Urteil vom 14. Dezember 2011 – „Monapax“ –, a.a.O.). Das BSG hat dies mit dem auch im Arzneimittelrecht (BVerwG, Urteil, vom 16. Oktober 2008, Az.: 3 C 23.07, veröffentlicht in Juris) geltenden Grundsatz begründet, dass sich aus der Zugehörigkeit eines Arzneimittels zu einer besonderen Therapierichtung kein Anspruch auf Freistellung von allgemeingültigen gesetzlichen Anforderungen ergebe (BSG, a.a.O., Rd. 36). Hiermit in Übereinstimmung hat es daher Behandlungsmaßnahmen der besonderen Therapierichtungen auch außerhalb der Pharmakotherapie nicht davon entbunden, Qualität, Wirksamkeit und therapeutischen Nutzen hinreichend nachzuweisen (Urteile vom 6. Oktober 1999, Az.: B 1 KR 13/97 R – „Amalgamaustausch“ – und vom 19. Februar 2002, Az.: B 1 KR 16/00 R – „Colon-Hydro-Therapie“ –, beide veröffentlicht in Juris). Daraus folgert der Senat, dass auch an das Erkenntnismaterial zur Ermittlung der Standardtherapie für den Bereich der Homöopathie keine anderen, insbesondere keine geringeren Anforderungen gestellt werden dürfen als im Bereich der Allopathie. Zu fordern ist demgemäß ein Nachweis anhand wissenschaftlicher Studien, vorrangig klinischer Art (4. Kapitel, § 34 Abs. 2 VerfO).

(b) Zum gleichen Ergebnis gelangt man aber auch, wenn man mit der Klägerin davon ausgeht, nach Nr. 16.5 AM-RL aF (und demzufolge wohl auch nach § 12 Abs. 6 Satz 1 AM-RL nF) sei das Vorliegen eines Therapiestandards „nach dem Erkenntnisstand … in der jeweiligen Therapierichtung“ zu beurteilen. Zwar kann der Senat weder der bisherigen Rechtsprechung des BSG noch dem klägerischen Vorbringen im hiesigen Rechtsstreit noch anderen Quellen entnehmen, nach welchen allgemeinen Regeln dieser Erkenntnisstand in der Homöopathie, insbesondere im Hinblick auf den hier primär relevanten Therapiestandard, zu ermitteln ist. Angesichts dessen erscheint es zulässig, auf das o.g. Kriterienpapier der sog. Kommission D zurückzugreifen. Diese Kommission wurde nach § 25 Abs. 7 Satz 1 AMG beim BfArM als zuständiger Bundesoberbehörde für nicht der Verschreibungspflicht nach § 48 Abs. 2 Nr. 1 AMG unterliegende Arzneimittel der Therapierichtung Homöopathie gebildet. Sie wird vom BfArM obligatorisch oder fakultativ bei bestimmten Zulassungsverfahren für homöopathische Arzneimittel, u.a. nach näherer Maßgabe von § 25 Abs. 7 Sätze 3 und 4 AMG, beteiligt. Im Rahmen ihrer Aufgaben hat diese Kommission u.a. die „Empfehlungen zur Planung und Durchführung homöopathischer Arzneimittelprüfungen“ vom 18. November 1998 und die o.g. „Kriterien für Erkenntnismaterial zu klinischen Prüfungen in der Homöopathie“ vom 9. Oktober 2002 (veröffentlicht jeweils auf der Website des BfArM – www.bfarm.de -, Pfad „Arzneimittel“, „Zulassung“, „Zulassungsarten“, „Besondere Therapierichtungen“, „Homöop. u. Anthrop. AM“, recherchiert am 21. März 2013) entwickelt und bekannt gemacht. Mit dem zuletzt genannten sog. Kriterienpapier wollte die Kommission D auf die problematische Arzneimittel- und Anwendungssicherheit reagieren, die sie bei einem alleinigen Abstellen auf die Angaben aus homöopathischen Arzneimittellehren nach dem Selbstverständnis der homöopathischen Therapierichtung erkannt hat. Orientiert an den Empfehlungen der evidenzbasierten Medizin hat sie daher ein nach Schwere der Erkrankungen abgestuftes Bewertungsschema zur Beurteilung von homöopathischem Erkenntnismaterial zur Verfügung gestellt. Darin wird für die Behandlung schwerer Erkrankungen mit dem Ziel einer „Besserung der Symptome einer/s bestimmten Erkrankung/Störung/Zustands oder Behandlung einer/s bestimmten Erkrankung/Störung/Zustandes“ u.a. mindestens eine nachvollziehbare klinische Prüfung gefordert. Auch wenn die Umschreibung für „schwere Erkrankungen“ i.S.d. Bewertungsschemas – „irreversible Organveränderungen, Organbeteiligung, Gefahr bei verzögerter Behandlung, schwere Komplikation möglich, zur Diagnostik und Therapie ärztliche Intervention in der Regel erforderlich, nicht selbstlimitierende Erkrankung“ – erheblich hinter den o.g. Anforderungen an eine schwerwiegende Erkrankung i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V zurückbleibt, bedarf es jedenfalls auch bei dieser Auslegung von § 12 Abs. 6 AM-RL zumindest einer klinischen Prüfung bzw. Studie, um einen Therapiestandard i.S.v. § 34 Abs. 1 Satz 2 SGB V bei einer schwerwiegenden Erkrankung bejahen zu können.

c) Eine solche klinische Studie, die belegt, dass Vertigoheel als Therapiestandard zur Behandlung verschiedener Schwindelzustände gilt, existiert nicht. Wegen der von der Klägerseite insoweit angeführten Untersuchungen verweist der Senat gemäß § 136 Abs. 3 SGG auf die zutreffenden Ausführungen des Beklagten in den angefochtenen Bescheiden.

d) Doch selbst wenn man auf klinische Prüfungen bzw. Studien zur Feststellung des Therapiestandards in der Homöopathie verzichtet, hätte die Klage keinen Erfolg. Rein begrifflich bezeichnet ein Standard „etwas, was als mustergültig, modellhaft angesehen wird und wonach sich anderes richtet“, etwa als Richtschnur, Maßstab oder Norm (vgl. Duden, Stichwort „Standard“). Damit verbunden ist die Erwartung, dass etwas im Sinne eines Konsenses weithin anerkannt ist und sich gegenüber anderem durchgesetzt hat. Ein wissenschaftlicher Standard kann demzufolge nicht bestehen, wenn maßgebliche Stimmen eine andere Auffassung vertreten.

Insoweit kommt der von einer wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaft erstellte o.g. S1-Leitlinie zur Therapie von Schwindel besondere Bedeutung zu, da hiervon abweichende Auffassungen nicht als Konsens oder Standard bezeichnet werden können. Nach dieser Leitlinie existiert schon kein einheitlicher Therapiestandard für alle Formen von Schwindel. Vielmehr differenziert die Leitlinie bei den Therapieempfehlungen zwischen insgesamt neun Arten des Schwindels. Nicht bei jeder Art wird primär eine Pharmakotherapie befürwortet, und – dies ist entscheidend – Vertigoheel wird bei keiner der neun erörterten Formen des Schwindels auch nur erwähnt. Angesichts dessen kann Vertigoheel kein Therapiestandard zur Behandlung „verschiedener Schwindelzustände“ sein.

C. Der hilfsweise gestellte (Beweis-)Antrag der Klägerin bleibt ebenfalls ohne Erfolg.

1. Er ist hinsichtlich seines zweiten Teils – die beiden mit „ob“ eingeleiteten und durch „oder“ verbundenen Halbsätze – bereits unzulässig. Denn ein zulässiger Beweisantrag muss das Beweisthema möglichst konkret angeben, er muss demnach angeben, welche Beweistatsache durch das benannte Beweismittel belegt werden soll (Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, Sozialgerichtsgesetz, 10.A., § 160 Rd. 18a m.w.N.). Ein unzulässiger Ausforschungsantrag liegt demgegenüber vor, wenn der Beweisantrag zwei alternativ zueinander stehende Tatsachen beinhaltet. Dies hat die Klägerin mit ihrer Formulierung „ob der therapeutische Nutzen des streitgegenständlichen Arzneimittels bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse entspricht oder ob die Anwendung des streitgegenständlichen Arzneimittels bei der Behandlung schwerwiegender Erkrankungen nach dem Erkenntnisstand der Homöophatie als Therapiestandard angezeigt ist“ missachtet.

2. Der Beweisantrag ist jedenfalls insgesamt unbegründet. Die Frage, wie ein vom Gericht bestellter Sachverständiger aus seiner Sicht die Frage des Therapiestandards beantwortet und in welchen Fällen er dem einen oder anderen Wirkstoff den Vorzug geben würde, ist im Rahmen einer auf Normenkontrolle gerichteten Feststellungsklage ohne Bedeutung. Es geht nämlich – wie das BSG bereits hervorgehoben hat (Urteil vom 31. Mai 2006, a.a.O.) – nicht um die sachverständige Beurteilung eines einzelnen Behandlungsfalles, sondern um eine auf genereller Ebene angesiedelte Beurteilung.

D. Die Kostenentscheidung folgt aus § 197 a Abs. 1 Satz 1 SGG in Verbindung mit § 154 Abs. 1 VwGO.

Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache hat der Senat die Revision zugelassen, § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG.