Gericht | FG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 21.10.2013 | |
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Aktenzeichen | 3 K 3137/12 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | Art 68 Abs 2 S 3 EGV 883/2004, Art 11 Abs 3a EGV 883/2004, Art 11 Abs 3 EGV 883/2004, Art 68 Abs 3 EGV 883/2004, Art 68 Abs 1 EGV 883/2004, Art 60 Abs 2 EGV 987/2009, Art 60 Abs 3 S 1 EGV 987/2009, Art 60 Abs 3 S 3 EGV 987/2009 |
1. Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 ist keine Konkurrenzvorschrift, sondern eine Prioritätsvorschrift, was dazu führt, dass bei Eingang eines Kindergeldantrages zunächst zu prüfen ist, ob Rechtsvorschriften des eigenen Staates Vorrang oder Nachrang haben.
2. Bei der unionsrechtlichen Priorisierung bestimmt sich die Art eines Anspruchs im Sinne von Art. 68 Abs. 1 der VO nicht nach nationalem Recht, sondern nach Art. 11 bis Art. 16 der VO.
3.a) Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende gemäß SGB 2 ("Hartz IV") sind Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe c der VO.
b) Der Kindergeldanspruch eines "Hartz IV Empfängers" beruht daher unionsrechtlich auf seiner Beschäftigung, nicht auf seinem Wohnsitz.
4. Versäumt die deutsche Kindergeldkasse die Einleitung des in Art. 60 Abs. 3 der VO Nr. 987/2009 vorgesehenen Verfahrens, trifft sie für die Gewährung ausländischen Kindergeldes die Darlegungs und Beweislast.
Dem Antragsteller wird für die erste Instanz Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt D… beigeordnet.
A.
Die Beteiligten streiten um die Gewährung des vollen statt des Differenzkindergeldes nach „neuem“ EU-Recht, d. h. für Monate ab Inkrafttreten der VO (EG) Nr. 883/2004 (im Folgenden: Grundverordnung oder GVO) und der VO (EG) Nr. 987/2009 (im Folgenden: Durchführungsverordnung oder DVO).
Der polnische Kläger lebt seit 2000 in E…, die Ehefrau und die 1990 bzw. Mai 1994 geborenen Kinder B… und C… in Polen. Der zuvor nichtselbständig tätige Kläger lebt seit Mai 2006 von ALG II (KG-A Bl.232). B… studiert Ethnologie in F… bis voraussichtlich 30.09.2012 (also über den Streitzeitraum hinaus) (KG-A Bl. 164, 139), C… war im Streitzeitraum noch nicht 18 Jahre alt und besuchte ein Lyzeum. Gemäß Bescheinigung des Regionalzentrums in H… vom 06.10.2010 hat die Mutter für die Zeit vom 01.02.2009 bis 30.09.2010 keinen Antrag auf den Bezug von Familienleistungen gestellt und keine Familienleistungen bezogen, jedoch Leistungen aus dem Lebensunterhaltsfonds (KG-A Bl. 150, 152, 177), nach Angaben der Mutter handelt es sich hierbei um Sozialhilfe für die minderjährige Tochter C… (KG -A Bl. 150, 152). Laut Mitteilung des Regionalzentrums H… vom 02.01.2012 kann die Anfrage der Familienkasse, ob die Mutter bei Antragstellung einen Anspruch auf Familienleistungen hätte, nicht beantwortet werden, weil die Mutter bestimmte erforderliche Unterlagen trotz Aufforderung nicht vorgelegt hat (Bl. 250, 254). Die studierende Tochter erhält ein Stipendium (Sozialstipendium 380 Zl/Monat, Stipendium für Verpflegung 210 Zl/Monat, Wohnstipendium 320 Zl/Monat, zusammen 910 Zl/Monat, umgerechnet zusammen ungefähr 218 €/Monat), KG-A Bl. 169, 172). Der Kläger zahlt seinen Kindern keinen Unterhalt, weil er nicht leistungsfähig ist, hat jedoch vereinbart, erhaltenes Kindergeld an diese weiterzuleiten.
Mit Bescheid vom 19.07.2011 gewährte die beklagte Familienkasse Differenzkindergeld (u. a.) für Mai 2010 bis Dezember 2010. Es zog für beide Kinder vom Regelsatz (von je 184 €) das mutmaßlich polnische Kindergeld in Höhe von 98 Zl (24,69 €) für B… und 91 Zl (22,93 €) ab und gewährte 159,31 € bzw. 161,07 € (KG-A Bl. 184). Für die Zeit ab Januar 2011 entschied es ebenso (KG-A Bl. 187).
Mit seinen Einsprüchen begehrte der Kläger ungekürztes Kindergeld und machte geltend, sein deutsches ALG II werde in Polen als Familieneinkommen angerechnet. Aufgrund der dort beim Kindergeld geltenden Einkommensgrenzen sei die Mutter nicht kindergeldberechtigt.
Mit Einspruchsentscheidungen vom 03.04.2012 (KG-A Bl. 266, 269) wies die Familienkasse die Einsprüche als unbegründet zurück. Aufgrund der mangelnden Mitwirkung der Mutter könne die polnische Verbindungsstelle keine Entscheidung über die Höhe des polnischen Kindergeldes treffen. Daher könne auch die Familienkasse diese nicht feststellen. Sie müsse daher davon ausgehen, dass der Kindesmutter bei erfolgter Antragstellung Kindergeld zugestanden hätte, so dass nur der Unterschiedsbetrag zu zahlen sei.
Die hiergegen gerichteten Klagen vom 07.05.2012 hat der Senat mit Beschluss vom 26.06.2012 verbunden.
Die Familienkasse ist der Klage entgegengetreten und hat ausgeführt, die in Polen lebende Mutter sei im Streitzeitraum nicht (mehr) erwerbstätig gewesen. Sowohl die Mutter in Polen als auch der Vater in Deutschland seien nicht aufgrund Erwerbstätigkeit, sondern aufgrund Wohnsitzes kindergeldberechtigt. Bei einer Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation sei der Staat des Wohnsitzes der Kinder vorrangig zuständig (Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b Ziffer 3 GVO). Die Familienkasse habe daher nicht einmal Differenzkindergeld leisten müssen (Art. 68 Abs. 2 Satz 3 GVO). Für die Zukunft (ab August 2012) werde daher der Bewilligungsbescheid ersatzlos aufgehoben. Für den Streitzeitraum komme zwar im Klageverfahren keine Verböserung in Betracht, jedoch sei mangels Anspruchs überhaupt auch kein Anspruch auf den abgezogenen Differenzbetrag gegeben.
B.
Gemäß § 114 ZPO i. V. m. § 142 Abs. 1 FGO ist dem Kläger Prozesskostenhilfe zu gewähren, weil die Klage bei summarischer Betrachtung Aussicht auf Erfolg hat.
Aus der Darstellung der Vorgehensweise in Art. 60 DVO folgt, dass Art. 68 der GVO keine Konkurrenzvorschrift ist für den Fall, dass tatsächlich zwei Ansprüche in zwei Staaten gegeben sind, sondern eine Prioritätsvorschrift, die abstrakt anzuwenden ist aufgrund der übrigen Vorschriften der GVO.
Bei Eingang des Antrags hat daher die Familienkasse zunächst zu prüfen, ob nach Art. 68 die eigenen Rechtsvorschriften Vorrang oder Nachrang haben. Dies bestimmt sich nach Art. 68 Abs. 1 der GVO. Haben die eigenen Vorschriften Vorrang, richtet sich das Verfahren nach Art. 60 Abs. 2 der DVO, es sind die vollen Leistungen zu gewähren, auf ein etwaiges vom anderen Staat (ggf. erhöhend) zu gewährendes Differenzkindergeld (in Polen gegenüber dem deutschen Kindergeld wohl fernliegend) kommt es nicht an. Haben die eigenen Vorschriften Nachrang, richtet sich das Verfahren nach Art. 68 Abs. 3 GVO und Art. 60 Abs. 3 DVO, dies bedeutet insbesondere, dass eine vorläufige Entscheidung über den eigenen Nachrang zu treffen und der Antrag an den anderen Staat weiterzuleiten ist.
Die Frage, was die Ansprüche auslöst gemäß Art. 68 Abs. 1 GVO, bestimmt sich nicht nach nationalem Recht, sondern nach Art. 11 bis 16, insbesondere Art. 11 Abs. 3 der GVO (so ständige Rechtsprechung der Finanzgerichte, vgl. z. B. FG Köln, Urteil vom 23.04.2013 1 K 3128/10, Juris Rn. 14; FG Münster, Urteil vom 01.02.2013 4 K 997/12, EFG 2013, 709, Juris Rn. 14). Leistungen zur Grundsicherung für Arbeitssuchende nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (umgangssprachlich: „Hartz IV“) sind Leistungen bei Arbeitslosigkeit gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe c der GVO (so SG Dresden, Beschluss vom 18.03.2013 S 18 KR 121/13 ER, Juris). Für die unionsrechtliche Priorisierung gemäß Art 68 GVO steht der Bezug von Leistungen bei Arbeitslosigkeit (Art. 11 Abs 3 Buchstabe c der GVO) einer Beschäftigung (Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der GVO) gleich, weil Art. 68 GVO insoweit keine speziellen Bezugnahmen enthält (so FG Münster, Urteil vom 01.02.2013 4 K 385/12, EFG 2013, 711, Juris Rn. 33). Der Kindergeldanspruch des in Deutschland lebenden Klägers beruht daher (im Sinne der unionsrechtlichen Priorisierungsvorschriften) auf seiner Beschäftigung, nicht auf seinem Wohnsitz.
1.
Die beklagte Familienkasse hat bisher (Klageerwiderung vom 19.07.2012 und Schriftsatz vom 07.08.2012) vorgetragen, die in Polen lebende Kindesmutter sei im Streitzeitraum nicht erwerbstätig gewesen. Dann würde der polnische Kindergeldanspruch der Kindesmutter dort nicht (im Sinne von Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a der GVO) auf einer Beschäftigung, sondern (im Sinne von Art. 11 Abs. 3 Buchstabe e der GVO) auf ihrem Wohnsitz beruhen. Dann hätte der Anspruch des hiesigen Kindesvaters gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchstabe a der GVO Vorrang. Auf etwaiges (dort zu Unrecht gewährtes) polnisches Kindergeld käme es nicht an. Es wäre in jedem Fall volles Kindergeld zu zahlen.
2.
Sollte die Familienkasse ihren Vortrag nun noch ändern und jetzt vortragen, die Kindesmutter sei erwerbstätig gewesen (was aufgrund des Vortrags des Klägers und der von diesem vorgelegten polnischen Steuerbescheinigungen nicht vollständig fernliegt), dann wären sowohl der Kläger als auch die Kindesmutter im Sinne des Art. 68 Abs. 1 Buchstabe b Absatz i GVO aufgrund Beschäftigung berechtigt, so dass der Wohnort der Kinder über den Vorrang entscheidet, so dass der polnische Anspruch Vorrang hätte.
Für diesen Fall ist zunächst festzuhalten, dass die Familienkasse das dafür vorgesehene Verfahren gemäß Art. 60 Abs. 3 der DVO nicht durchgeführt hat. Der Akte ist weder zu entnehmen, dass die Familienkasse eine vorläufige Entscheidung über die anzuwendenden Prioritätsregeln getroffen hätte, noch dass sie den Kindergeldantrag an die zuständige polnische Stelle weitergeleitet hätte.
Dies könnte dazu führen, dass die Familienkasse so zu behandeln ist, als hätte sie entschieden, dass der deutsche Anspruch vorrangig ist, was ebenfalls zum vollen Kindergeldanspruch führen würde.
3.
Selbst wenn man die Einhaltung des in Art. 60 Abs. 3 DVO vorgesehen Verfahrens nicht zur Voraussetzung macht, so stünde dem Kläger dem Grunde nach Differenzkindergeld gemäß Art. 68 Abs. 2 GVO zu. Art 68 Abs. 2 Satz 3 der GVO steht dem – entgegen dem Vortrag der Familienkasse – nicht entgegen, weil es für die Einordnung, wie oben bereits ausgeführt, auf die Klassifizierung gemäß Art. 11 Abs. 3 GVO ankommt, dem Kläger also das Kindergeld nicht aufgrund seines Wohnortes, sondern aufgrund seiner Beschäftigung zusteht, jedenfalls also nicht ausschließlich aufgrund seines Wohnortes. Für die Berechnung der Differenz dürfte es nur auf das in Polen tatsächlich gezahlte Kindergeld ankommen (vgl. EuGH, Urteil vom 14.10.2010 C-16/09 „Schwemmer“, Juris). Die Höhe ergibt sich aus der Rückmeldung der polnischen Behörde an die deutsche Behörde gemäß Art 60 Abs. 3 Satz 3 letzter Teilsatz der DVO. Nach dem System des Art. 60 DVO trifft den Kläger daher keine Darlegungs- und Beweislast. Es ist Sache der Familienkasse, ggf. die ausländische Behörde an ihre Rückmeldepflicht gemäß Art. 60 Abs. 3 Satz 3 DVO zu erinnern. Hier kann es schon deswegen zu keiner Rückmeldung kommen, weil die Familienkasse die verfahrenseinleitende Weiterleitung des Antrages an die polnische Behörde gemäß Art 60 Abs. 3 Satz 1 DVO pflichtwidrig unterlassen hat. Dies geht aber zulasten der Familienkasse. Da mangels Rückmeldung der polnischen Familienkasse also von einem polnischen Kindergeld in Höhe von 0 € auszugehen ist, beträgt das Differenzkindergeld den vollen deutschen Satz.