Gericht | VG Cottbus 3. Kammer | Entscheidungsdatum | 27.01.2014 | |
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Aktenzeichen | 3 K 840/11 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 104 Abs 1 SGB 10, § 6 Abs 1 OEG, § 25 BVG, § 25a BVG |
Der Beklagte wird verurteilt, für den Zeitraum vom 1. Juni 2007 bis einschließlich Oktober 2013 einen Betrag in Höhe von 31.895,81 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 % Punkten über dem Basiszinssatz pro Jahr aus 20.232,47 Euro ab dem 15. November 2011, aus 27.431,50 Euro ab dem 28. November 2012 und aus 31.895,81 Euro ab dem 16. Dezember 2013 an den Kläger zu zahlen.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Beklagte.
Gegen Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages ist das Urteil für den Kläger vorläufig vollstreckbar.
Der Kläger begehrt von dem Beklagten Kostenerstattung im Hilfefall des Herrn S.
Der am 9. Dezember 1980 geborene S. wurde (zumindest auch) am 17. Dezember 1994 in Sch. Opfer eines sexuellen Missbrauchs durch seinen Onkel, der deshalb am 9. Juni 1995 vor dem Landgericht Frankfurt (Oder) angeklagt wurde. Dieses stellte das Verfahren gemäß § 154 der Strafprozessordnung vorläufig ein, weil der – bereits einschlägig vorbestrafte – Angeklagte wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern in drei anderen Fällen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren verurteilt und seine Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet wurde.
Das Hessische Amt für Versorgung und Soziales Gießen – Außenstelle M. – stellte mit Bescheid vom 17. Dezember 2003 fest, dass Herr S. einen Grad der Behinderung (GdB) von 80 aufweise, und zwar im Hinblick auf das Vorliegen einer seelischen Behinderung, einer intellektuellen Minderbegabung und schwerer psychosozialer Störungen.
Mit Bescheid vom 1. Juli 2008 erkannte der Beklagte auf den entsprechenden Antrag Herrn S. vom 4. Mai 2000 das Vorliegen einer auf dem Missbrauch beruhenden Gesundheitsstörung in Form einer chronisch rezidivierenden Anpassungsstörung im Sozialverhalten und der Emotionen und eines hieraus resultierenden Grades der Schädigungsfolgen (GdS) von 40 an und stellte fest, dass dieser ab dem 1. Mai 2000 deshalb Anspruch auf Beschädigtenversorgung nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) hat, nachdem der Beklagte hierzu durch das Hessische Landessozialgericht mit Urteil vom 30. Januar 2008, Az.: L 4 VG 1/06, verpflichtet worden war. In seiner Entscheidung stützte sich das Gericht maßgeblich auf das von ihm eingeholte Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie L. vom 2. April 2007 nebst Ergänzung vom 18. April 2007, wonach Herr S. neben einer nicht auf dem Missbrauch beruhenden leichten Intelligenzminderung unter einer chronisch rezidivierenden Anpassungsstörung im Sozialverhalten und der Emotionen leide und darüber hinaus Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung zeige. Die festgestellten Gesundheitsstörungen seien mit Wahrscheinlichkeit durch den sexuellen Missbrauch des Onkels entstanden, wobei nach den Feststellungen des Gutachtens bereits im Vorfeld der Tat vom 17. Dezember 1994 (beginnend ab etwa 1988) mehrere, teils schwere sexuelle Übergriffe durch den Onkel erfolgt seien.
Mit Schreiben vom 10. Juli 2008 bat der Kläger, der dem in dieser Zeit in seinem Bereich wohnhaften, in einer Werkstatt für Behinderte tätigen Herrn S. seit dem 1. Juni 2007 laufende Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch (SGB) XII in Form von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gewährte, den Beklagten um Übernahme des Falles in eigene Zuständigkeit und machte gleichzeitig einen Erstattungsanspruch geltend. Hieraufhin stellte der Beklagte mit Schreiben vom 18. Februar 2011 fest, dass ein Erstattungsanspruch nicht gegeben sei, da ein wirtschaftlicher Kausalzusammenhang zwischen der Schädigung und dem Bedarf des Betroffenen an Leistungen der Grundsicherung nicht bestehe. Letzterer beruhe vielmehr auf der geistigen Behinderung Herr S. in Kombination mit den schwer gestörten Familienverhältnissen seiner Kindheit, weshalb er auch ohne den Missbrauch nicht in der Lage gewesen wäre, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Bereits mit Bescheid vom 30. März 2009 hatte der Beklagte einen Antrag Herrn S. auf Höherbewertung des Grades der Schädigungsfolgen sowie Gewährung eines Berufsschadensausgleiches abgelehnt, weil sein bereits weit vor der Schädigung bestimmter schulischer Entwicklungsweg durch die Schädigungsfolgen nicht wesentlich beeinflusst worden sei und seine Unterbringung in einer Werkstatt für Behinderte ausschließlich auf die Vorschäden zurückgeführt werden könne. Dem lag die Stellungnahme der Versorgungsärztin Dr. med. B. vom 24. März 2009 zugrunde, wonach dem vom Hessischen Landessozialgericht eingeholtem psychiatrischen Gutachten vom 2. April 2007 aus versorgungsärztlicher Sicht nicht in vollem Umfang gefolgt werden könne, da der Gutachter die aus dem schwer gestörten familiären Umfeld resultierenden Kindheits- und Jugenderlebnisse völlig außer Acht gelassen habe. Es habe sich schon früh abgezeichnet, dass Herr S. den Anforderungen der Grundschule nicht gewachsen sei.
Unter Bezugnahme hierauf bekräftigte der Beklagte mit Schreiben vom 10. August 2011 gegenüber dem Kläger nochmals seine Auffassung, dass ein Erstattungsanspruch nicht gegeben sei. Die Ablehnungsentscheidung der Versorgungsverwaltung sei auch für die Kriegsopferfürsorge ein Indiz für das Fehlen der Kausalität zwischen den Schädigungsfolgen und der Notwendigkeit, die gewährten Leistungen der Grundsicherung in Anspruch nehmen zu müssen.
Am 15. November 2011 hat der Kläger die vorliegende Klage erhoben.
Er ist der Auffassung, gegen den Beklagten einen Erstattungsanspruch gemäß § 104 Abs. 1 SGB X zu haben, da er als nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht habe, obwohl ein gleichartiger Leistungsanspruch vorrangig gegenüber dem Beklagten bestanden habe. Herr S., der unstreitig zum Personenkreis der nach dem Opferentschädigungsgesetz Berechtigten gehöre, habe im hier streitgegenständlichen Zeitraum gegen den Beklagten einen Anspruch auf ergänzende Hilfe zum Lebensunterhalt gemäß § 27 a Satz 1 BVG gehabt. Zwischen der Schädigung und dem Hilfebedarf bestehe insbesondere auch der erforderliche, gemäß § 25 a Abs. 2 Satz 1 BVG gesetzlich vermutete Kausalzusammenhang. Diese Vermutung habe der Beklagte nicht ansatzweise widerlegt. Einen Erfahrungssatz, wonach Kinder, die in schwierigen Familienverhältnissen aufwachsen bzw. durch diese geprägt werden, später ihren Lebensunterhalt nicht selbst verdienen können, gebe es nicht. Gleiches gelte, soweit der Beklagte sich darauf stützt, dass Herr S. die fünfte Klasse habe wiederholen müssen und ab der siebenden Klasse eine Schule für Lernhilfe besucht habe. Dass Herr S. schon vor der Schädigung dissoziale Verhaltensweisen gezeigt habe, sei bereits durch das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts verneint worden, das darauf verwiesen habe, dass entsprechende Feststellungen des Sachverständigen Dr. B. nicht nachvollziehbar seien. Das Gericht habe auch festgestellt, dass erst die schädigenden Ereignisse im Dezember 1994 zu der Gesundheitsstörung und zu einem nachhaltigen Knick in der Lebenslinie und den Erwerbserwartungen des Herrn S. geführt hätten. Der Beklagte lege zudem einen unzutreffenden Sachverhalt zugrunde, da Herr S. nicht, wie der Beklagte meine, geistig behindert, sondern lediglich leichtgradig intelligenzgemindert sei. Durch eine leichtgradige Intelligenzminderung werde aber die Fähigkeit, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, nicht in Frage gestellt; auch insoweit gebe es keinen Erfahrungssatz, vielmehr bestehe nach der Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation für viele Erwachsene mit einer solchen Intelligenzminderung die Möglichkeit, zu arbeiten, gute soziale Beziehungen zu unterhalten und einen Beitrag zur Gesellschaft zu leisten (F 70 ICD-10). Ebenso wenig stehe das Unvermögen, einen Beruf zu lernen, der Fähigkeit, selbst für den Lebensunterhalt zu sorgen, entgegen, da man auch als ungelernte Arbeitskraft sein Auskommen finden könne.
Seinen ursprünglich auf einen Betrag in Höhe von 20.232,47 Euro bezifferten Klageantrag hat der Kläger mit Schriftsatz vom 27. November 2012 hinsichtlich der von ihm weiter gewährten Leistungen für den Zeitraum Oktober 2011 bis Dezember 2012 und mit Schriftsatz vom 16. Dezember 2013 für den Zeitraum bis zum 31. Oktober 2013 erweitert.
Der Kläger beantragt nunmehr – sinngemäß -,
den Beklagten zu verurteilen, ihm für den Zeitraum von 1. Juni 2007 bis einschließlich Oktober 2013 einen Betrag in Höhe von 31.895,81 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er trägt vor, dass er keinen Zusammenhang zwischen den anerkannten Schädigungsfolgen und der Hilfebedürftigkeit Herrn S. feststellen könne. Denn bei diesem liege auch eine Intelligenzminderung vor. Kommen jedoch mehrere Umstände in Frage, müsse das schädigende Ereignis annähernd gleichwertige Ursache für die Notwendigkeit der Leistungen sein. Die geistige Behinderung Herrn S. erkläre aus sich heraus, dass dieser eine wirtschaftliche Selbstständigkeit nicht habe erreichen können, wofür auch die Zeugnisse der von ihm besuchten privaten Berufssonderschule F-Schule der Jahre 1998 bis 2001 aufschlussreich seien. Entsprechend habe das Sozialgericht Marburg in seinem Urteil vom 24. Oktober 2011 ausgeführt, dass die schädigungsunabhängig vorliegende Intelligenzminderung dazu geführt habe, dass Herr S. nicht in der Lage gewesen sei, einen Beruf ordnungsgemäß zu erlernen und auszuüben. Das schädigende Ereignis und die daraus resultierende Gesundheitsstörung erkläre nicht, dass der Betroffene noch in seinem 21. Lebensjahr eine Sonderschule besucht hat und über Jahre hinweg nur für einfache Tätigkeiten in einer Behindertenwerkstatt eingesetzt werden konnte. Selbst hierbei habe er ausweislich eines Entwicklungsberichtes immer wieder Anleitung und Übung benötigt, was sich – ebenso wie der Bedarf an erheblicher Unterstützung im hauswirtschaftlichen Bereich, beim Einkauf von Lebensmitteln, bei der Geldeinteilung, der Körperhygiene und der Wäschepflege - nicht durch eine Anpassungsstörung erkläre.
Wegen der weiteren Einzelheiten und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Klägers (zwei Hefte) und des Beklagten (zwei Hefte) sowie der zum Parallelverfahren 3 K 936/11 übersandten Verwaltungsvorgänge (fünf Hefte) ergänzend Bezug genommen.
Die Kammer kann über die Klage gemäß § 101 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, nachdem sich der Kläger und der Beklagte hiermit einverstanden erklärt haben.
Die zulässige Klage ist begründet.
Anspruchsgrundlage der geltend gemachten Kostenerstattung ist § 104 Abs. 1 Satz 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X). Hiernach ist, wenn ein nachrangig verpflichteter Leistungsträger Sozialleistungen erbracht hat, ohne dass die Voraussetzungen des § 103 Abs. 1 vorliegen, der Leistungsträger erstattungspflichtig, gegen den der Berechtigte vorrangig einen Anspruch hat oder hatte. Nachrangig verpflichtet ist ein Leistungsträger, soweit dieser bei rechtzeitiger Erfüllung der Leistungsverpflichtung eines anderen Leistungsträgers selbst nicht zur Leistung verpflichtet gewesen wäre, § 104 Abs. 1 Satz 2 SGB X.
So liegen die Dinge hier.
Der Kläger hat entsprechend seiner Zuständigkeit gemäß § 97 Abs. 1 SGB XII i. V. m. § 1 Abs. 1 HAG-SGB XII als örtlicher Träger der Sozialhilfe im hier streitgegenständlichen Zeitraum an den betroffenen Hilfeempfänger Sozialhilfe in Form von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung gemäß §§ 41 ff. SGB XII geleistet. Sozialhilfe wird jedoch gemäß § 2 Abs. 1 SGB XII nur nachrangig geleistet, nämlich u.a. wenn der Betroffene die erforderlichen Leistungen von Trägern anderer Sozialleistungen nicht erhält.
Hier hatte der Hilfeempfänger jedoch vorrangig Anspruch auf Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) gegen den gemäß § 6 Abs. 1 Satz 1 OEG i. V. m. § 1 Abs. 1 Satz 1 der Versorgungsverwaltungszuständigkeitsverordnung (VersVwZV) vom 11. August 2006 hierfür zuständigen Beklagten. Denn der Hilfebedarf des Herrn S. bestand und besteht maßgeblich aufgrund der von ihm erlittenen Schädigung.
Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG hat Anspruch auf Versorgung u.a., wer infolge eines vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs auf seine Person eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat. Dies ist hier mit dem von dem Betroffenen erlittenen sexuellen Missbrauch der Fall, aus dem eine psychische Erkrankung in Form einer chronisch rezidivierenden Anpassungsstörung im Sozialverhalten und der Emotionen resultierte. Daher hat er ausweislich der Verweisung des Opferentschädigungsgesetzes auf die Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) gemäß §§ 25 ff BVG Anspruch auf Fürsorgeleistungen nach diesem Gesetz, soweit er, was hier der Fall ist, nicht in der Lage ist, seinen Bedarf aus den übrigen Leistungen nach dem Bundesversorgungsgesetz und dem sonstigen Einkommen und Vermögen zu decken.
Die durch den Missbrauch erlittene chronisch rezidivierenden Anpassungsstörung im Sozialverhalten und der Emotionen ist auch ursächlich für die einen Grundsicherungsbedarf begründende Erwerbsunfähigkeit des Betroffenen. Gemäß § 25 a Abs. 2 Satz 1 BVG wird ein Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Notwendigkeit der Leistung vermutet, sofern nicht das Gegenteil offenkundig oder nachgewiesen ist. Entgegen der Auffassung des Beklagten lassen die vorliegenden Unterlagen jedoch nicht den Schluss zu, dass der Hilfebedarf hier nicht aus der Schädigung, sondern aus der schädigungsunabhängig bestehenden leichten Intelligenzminderung resultierte.
Dabei vernachlässigt die Kammer nicht, dass sich auch die Intelligenzminderung – ebenso sicher wie die problematischen familiären Rahmenbedingungen des betroffenen Hilfebedürftigen – nachteilig auf dessen weitere Entwicklung auswirkten. So heißt es in dem vom Hessischen Landessozialgericht veranlassten Sachverständigengutachten des Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie L. vom 2. April 2007 ausdrücklich, dass die bereits vor der Schädigung vorliegende ungünstige psychische Entwicklung des Herrn S. als prämorbide ungünstige Voraussetzung und als Risikofaktor gewertet werden könne, Opfer eines Missbrauchsgeschehens zu werden (Seiten 55, 59 f. des Gutachtens). Ebenso seien mit der Intelligenzminderung und mangels stützenden familiären Halts die Ressourcen zur Bewältigung der psychosozialen Anforderungen im Rahmen seiner Entwicklung und insbesondere der Missbrauchserfahrung deutlich beeinträchtigt gewesen (Seiten 50, 55 des Gutachtens).
Andererseits stellt das Gutachten ebenso ausdrücklich fest, dass krankheitswerte Zeichen bei dem Betroffenen erst nach der Schädigung im Dezember 1994 auftraten, die an Häufigkeit und Ausprägung einen qualitativen Sprung gegenüber seiner bisherigen Situation darstellten (Seite 54 des Gutachtens). Damit markiert der Gutachter eine deutliche Zäsur in der Entwicklung des Hilfebedürftigen, indem er nachvollziehbar zwischen dessen – durch die familiäre Sozialisation und die Intelligenzminderung bedingten - ungünstigen Funktionsniveau als Risikofaktor für das Erfahren und die Bewältigung eines Missbrauches einerseits und der gezielten und gewalttätigen Verletzung als Auslöser und Ursache der Erkrankung andererseits unterscheidet. Insofern vermag die Einschätzung der Versorgungsärztin Dr. med. B. in ihrer Stellungnahme vom 24. März 2009, auf die sich der Beklagte ersichtlich maßgeblich stützt, nicht zu überzeugen, wenn dort darauf verwiesen wird, das Gutachten des Herrn L. lasse die Kindheits- und Jugenderlebnisse des Betroffenen völlig außer Acht. Dieser hat sich vielmehr im Rahmen der eigenen Exploration wie auch in der Auswertung der bisherigen fachärztlichen Stellungnahmen und Gutachten ersichtlich umfassend mit der Herkunfts- und Vorgeschichte des Herrn S. befasst und hieraus überzeugend seine gutachterlichen Feststellungen abgeleitet. Die erneut von Frau Dr. B. vertretene Auffassung, es sei bereits in den Jahren vor der Schädigung zu dissozialen Verhaltensweisen des Hilfebedürftigen in Form etwa von Diebstählen und Streunen gekommen, hatte bereits das Hessische Landessozialgericht in seinem Urteil vom 30. Januar 2008 verworfen. Eine richtungsweisende Änderung im Sozialverhalten des Herrn S. erfolgte vielmehr erst nach dem Missbrauch, ebenso wie erst in dessen Folge die Notwendigkeit zahlreicher ärztlicher, vor allem psychiatrischer Behandlungen aufgetreten ist.
Im Hinblick auf die erst durch die Schädigung hervorgerufene Psychiatrisierung des Betroffenen sowie Art und Auswirkungen der erlittenen Gesundheitsstörung vermag die Auffassung des Beklagten, dass ein Zusammenhang zwischen der Schädigung und der Erwerbsminderung des Herrn S. nicht festzustellen sei, nicht im Ansatz zu überzeugen.
So beschreibt Herr L. in seinem Gutachten, dass Herr S. neben der Intelligenzminderung unterdurchschnittlich differenziert wirkt im Sinne einer ich-strukturellen Störung. Es war eine defizitäre Selbst- und Objektwahrnehmung, Selbststeuerung, Abwehr, Kommunikation, Bindung und allgemeine Orientierung im Leben feststellbar. Den Anforderungen des Alltags ist er häufig nicht gewachsen und also von ihnen überfordert. Auch die soziokommunikative Kompetenz ist deutlich beeinträchtigt (Seite 43 des Gutachtens). Die diagnostizierte Anpassungsstörung, die sich als gemischte Störung der Emotionen und des Sozialverhaltens darstellt, äußert sich zum einen in einer psychosozialen Belastung insbesondere in Form interpersoneller Konflikte, zum anderen in emotionalen Symptomen (etwa Episoden depressiver oder gehobener Stimmung, Störungen von Antrieb, Schlaf, Selbstgefühl, Konzentration, Interesse) und Störungen des Sozialverhaltens (etwa ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche, körperliche Auseinandersetzungen, häufiges Streiten im Zusammenhang mit Ablehnung und Zurückweisung von Wünschen und Vorschriften, Verantwortlichmachen anderer für eigenes Fehlverhalten, Lügen, Brechen von Versprechen, um Vorteile zu erlangen oder Verpflichtungen zu vermeiden) (Seite 46 des Gutachtens).
Dementsprechend manifestiert sich das konkrete Beschwerdebild des Hilfebedürftigen nach den zusammenfassenden Feststellungen des Gutachters, wie sie auch das Hessische Landessozialgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegt hat, unabhängig von seiner leichtgradigen Intelligenzminderung in einer erheblich ausgeprägten Instabilität in nahezu allen psychischen und sozialen Bereichen, wodurch seine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erheblich beeinträchtigt ist. Dabei ist von einem episodisch verlaufenden Beschwerdebild auszugehen, wobei Herr S. in „besseren“ Zeiten unter Orientierungslosigkeit, sehr wechselhaften Affektlagen, Gefühlen von Leere und Haltlosigkeit, wiederkehrender psychophysischer Belastung mit der Tendenz zur Überforderung leidet, zudem zeigen sich Nervosität und eine Vermeidung von Ruhe und Besinnung. Bei regelmäßiger krisenhafter Zuspitzung von Konflikten kommt es zu Eskalationen, die erhebliche emotionale, dissoziale, manipulative und auch suizidale Prägungen haben (Seite 52 des Gutachtens). Insgesamt ist festzustellen, dass es sich um eine stärker behindernde Störung handelt und dass Herr S. auf Dauer auf psychiatrische Behandlung angewiesen ist.
In Anbetracht dieser erheblichen und umfassenden Störung, die sich ersichtlich auf sämtliche Lebensbereiche nachhaltig negativ auswirkt, vermag es nicht zu überzeugen, dass sich in der Erwerbsunfähigkeit des Betroffenen unabhängig davon gerade die lediglich leichtgradige Intelligenzminderung niederschlagen soll. Soweit Frau Dr. B. in ihrer Stellungnahme vom 24. März 2009 darauf verweist, dass sich schon früh abgezeichnet habe, dass Herr S. den Anforderungen der regulären Grundschule nicht gewachsen war – er musste die fünfte Klasse wiederholen, in der siebten Klasse – also 1994 – wurde er in eine Schule für Lernhilfe umgeschult -, ergibt sich daraus keinerlei zwingender oder auch nur überwiegend wahrscheinlicher Schluss auf eine spätere Erwerbsminderung. Vielmehr ist davon auszugehen, dass eine relevante Anzahl von Absolventen mit vergleichbarer Schulbildung auf dem Arbeitsmarkt durchaus vermittelbar ist, wenn auch sicher eher für einfache, ggf. auch ungelernte Tätigkeiten.
Ebenso wenig vermag der Hinweis des Beklagten auf die von Herrn S. besuchte Berufssonderschule und die ihm dort ausgestellten Zeugnisse aus den Jahren 1998 bis 2001 zu überzeugen. Darin wird dem Hilfebedürftigen ein ausgeprägtes soziales Engagement bescheinigt, in Ausübung dessen er sich der Sorgen und Belange seiner Mitschüler annahm, als Klassensprecher tätig war und bei der Planung und Durchführung von Unternehmungen verantwortungsvoll mitwirkte. Demgegenüber habe er das Lernen vernachlässigt und sei kaum für die Erledigung unterrichtlicher Aufgaben zu gewinnen gewesen. Die Schlussfolgerung, hierin äußere sich einzig die intellektuelle Minderbegabung des Betroffenen, verkennt offenkundig das Erscheinungsbild und die Auswirkungen seiner – zu diesem Zeitpunkt bereits bestehenden - psychischen Erkrankung. Vielmehr spricht Überwiegendes dafür, dass sowohl das soziale als auch das unterrichtliche Agieren Herrn S. maßgeblich auf seine seelische Störung zurückzuführen ist. Besonders aufschlussreich sind insofern die differenzierenden Wertungen des Zeugnisses für das Schuljahr 2000/2001, wenn es dort einerseits heißt, die Erledigung unterrichtlicher Aufgaben scheine Herrn S. eine Anstrengung abzuverlangen, die er nur sehr ungern bereit sei, zu erbringen. Andererseits erfahre er durch sein soziales Engagement für die Belange der Klasse Anerkennung und Respekt von den anderen Schülern, was ihm die von ihm erwünschte Aufwertung seiner Persönlichkeit erbringe und weshalb er entsprechende Pflichten auch übernehme. Teilweise zeige er dabei aber auch die Tendenz, Mitschüler zu bevormunden. Hierin äußern sich deutlich die im Krankheitsbild vielfältig beschriebenen Mechanismen der Überforderung und Vermeidung von belastenden Anforderungen bei gleichzeitig überwertigem Streben nach Anerkennung und Zuwendung. Dass Herr S., der ausweislich der Zeugnisse durchaus über gute Fähigkeiten im Bereich der Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen verfügte und eigenverantwortlich und planvoll tätig sein konnte, den schulischen Anforderungen nicht gerecht wurde, lag ersichtlich weniger an einem etwaigen intellektuellen Scheitern als an seiner oben beschriebenen psychosozialen Störung, die ihm eine adäquate Balance der verschiedenen Interessenlagen verwehrte.
Schließlich verkennt der Beklagte, dass auch die seit 1995 schädigungsbedingt auftretende Erforderlichkeit überaus zahlreicher stationärer psychiatrischer Behandlungen der Erwerbsminderung des Betroffenen Vorschub geleistet haben dürfte. Denn auch hierin manifestiert sich, dass Herr S. schädigungsbedingt nicht in der Lage war und ist, selbständig für seinen Lebensunterhalt zu sorgen.
Auch aus den im Übrigen vorliegenden Unterlagen ergeben sich keine Anhaltspunkte dafür, dass der Hilfebedarf des Betroffenen ausschließlich oder überwiegend aus seiner geistigen Behinderung resultiert.
Vielmehr spricht auch der Umstand, dass Herr S. zuvor bereits Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gemäß § 35 a des Sozialgesetzesbuches (SGB) VIII erhielt und überwiegend stationär in Heimen und betreuten Wohngruppen für seelisch Behinderte untergebracht war, für die Maßgeblichkeit dieser Störung. Dementsprechend besucht er auch eine Werkstatt gerade für seelisch Behinderte. Anlässlich seiner Übernahme aus dem Arbeitstrainingsbereich in den Arbeitsbereich der Hephata-Werkstätten im Jahre 2000 heißt es im Rehabilitationsplan vom 15. August 2000, dass die kognitiven Fähigkeiten Herrn S. „auf dem oberen WfB-Niveau“ angesiedelt seien, wobei ihm seine Fähigkeiten und Kenntnisse im Kontext lebenspraktischer Anforderungen nur bedingt verfügbar seien. Er benötige klare Strukturen und Kontinuität in einem engen Beschäftigungsrahmen, elementar seien aber auch die betreuerische Beziehungsebene und eine stabile Vertrauensbasis, da er in Krisensituationen immer wieder dazu neige, aus der Realität zu fliehen und damit seine rehabilitiven Zielstellungen in Frage zu stellen. Insgesamt bestehe ein hoher Betreuungsbedarf in allen persönlichen und beruflichen Angelegenheiten. Perspektivisch gehe es um eine Stabilisierung im defizitären Bereich seiner Persönlichkeitsentwicklung. In der entsprechenden amtsärztlichen Stellungnahme des Gesundheitsamtes H. vom 4. Dezember 2000 wird die seelische Behinderung Herrn S. im Hinblick auf seinen Hilfebedarf als vorrangig, die geistige Behinderung dagegen nur als zusätzlich begleitende Behinderung eingestuft. Art und Ausmaß der Störung werden beschrieben durch eine äußerst geringe Belastbarkeit, wenig Durchhaltevermögen, ausweichendem Verhalten mit häufigen Abbrüchen von Beziehungen bzw. Arbeitssituationen und eine unrealistische Selbsteinschätzung mit forderndem Verhalten. Im Bericht über ein Praktikum, das Herr S. im Juli 2004 im gärtnerischen Bereich absolvierte, heißt es ebenfalls, dass seine Arbeitsleistung gegen Null tendiert habe, da er körperlich überlastet und ohne Durchhaltevermögen gewesen sei und ständig Gründe gefunden habe, die Arbeit zu verzögern oder einzustellen. Herr S. habe psychisch ein auffälliges Verhalten gezeigt, es sei ein hohes Maß an psychosozialer Betreuung im Arbeitsprozess erforderlich. Auch hier lagen die Probleme des Betroffenen also erkennbar ganz überwiegend im psychosozialen Bereich, während die schwachen kognitiven Fähigkeiten nur am Rande Erwähnung finden.
Entsprechendes gilt für den hier maßgeblichen Zeitraum ab Juni 2007. Herr S. lebt im Betreuten Wohnen des Lebenshilfe-Werkes Kreis W. e. V. Aus den hierzu gefertigten Integrierten Behandlungs-/Rehabilitationsplänen (IBRP) des Trägers geht hervor, dass Herrn S. Betreuungsbedarf ganz überwiegend aus seiner psychischen Labilität und den daraus folgenden Krisensituationen und Konflikten im sozialen Umfeld resultiert. Beschrieben werden auch hier die Schwierigkeit, Aggressionen adäquat zu äußern, Vereinbarungen einzuhalten und Regeln zu akzeptieren, die mangelnde Kritik- und Einsichtsfähigkeit, das hohe, auch manipulierend oder fordernd geltend gemachte Bedürfnis nach Zuwendung und Anerkennung sowie Beziehungsabbrüche, Überforderung und Selbstüberschätzung. Insgesamt zeigt sich das Bild eines in erster Linie emotional erheblich instabilen Menschen, der nach wiederholter Einschätzung des Trägers eigentlich stationär betreut werden müsste.
Auswirkungen dieser psychischen Situation auch auf die Erwerbsfähigkeit werden kenntlich, wenn es etwa im IBRP vom 26. Oktober 2007 heißt, Herr S. schaffe es nicht, eine Woche ohne – durch Verschlafen oder Ausreden verschaffte - Auszeiten in der Behindertenwerkstatt und ohne subjektive Beschwerden zu überstehen. Im IBRP vom 17. November 2009 wird vermerkt, dass sich die Fehlzeiten am Arbeitsplatz deutlich reduziert hätten, Herr S. sich aber weiterhin und auch sehr oft in Bezug auf seine Belastbarkeit überschätze. Um dem Betreuungspersonal in der Behindertenwerkstatt wie im Wohnbereich zu gefallen und positive Aufmerksamkeit zu erlangen, übernehme er oft Aufgaben und überschätze sich dabei, was sich wiederum auf sein Privatleben auswirke und etwa zu Überforderungen im hauswirtschaftlichen Bereich führe. Hier würden wieder die bestehenden Defizite im Bereich seiner psychischen Erkrankung deutlich. Bereits im IBRP vom 26. Oktober 2007 heiß es zudem, dass die sexuellen Übergriffe durch seinen Onkel immer wieder Gesprächsthema seien und Herrn S. gravierend belasteten. Auch im IBRP vom 27. Dezember 2010 wird vermerkt, dass präsent vor allem noch der sexuelle Missbrauch sei, den Herr S. nach wie vor nicht vollends verarbeitet habe, obwohl er es inzwischen geschafft habe, sich auf eine psychotherapeutische Aufarbeitung einzulassen.
Nachdem der Hilfebedürftige im Januar 2007 in die F. Werkstätten, Zweigstelle Sch. aufgenommen worden war, werden in einer Stellungnahme des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen zur Bedarfsüberprüfung vom 8. August 2007 Konzentrations- und zeitliche Orientierungsschwierigkeiten beschrieben und der Bedarf an zusätzlichen Pausen je nach psychischem Befinden. Ebenso werden auch hier seine Probleme im sozialen Bereich und im Umgang mit seinen Aggressionen benannt sowie das Problem der Selbstüberschätzung. In all diesen Bereichen benötige Herr S. begleitende Gespräche, Anleitung und beratende Unterstützung. Dementsprechend werden auch in den Entwicklungsberichten der Werkstatt hauptsächlich die Probleme und Fortschritte des Hilfebedürftigen in den Bereichen Arbeitshaltung und Antrieb, Gestaltung sozialer Beziehungen einschließlich der Konfliktbewältigung sowie Selbstwahrnehmung und –einschätzung beschrieben, die erkennbar den Schwerpunkt der erforderlichen Hilfeleistung darstellen. Hierbei handelt es sich ersichtlich gerade um die aus der psychischen Störung resultierenden Problemlagen. Im Entwicklungsbericht vom 12. Dezember 2007 wird etwa ausgeführt, dass Herr S. durch seine schwankende psychische Konstitution eine intensive Unterstützung bei der Durchführung seiner Aufgaben benötige. Eine Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit hänge stark von seinem Gesamtbefinden und den übrigen sozialen Abläufen in seinem Leben ab. In störungsbedingten Krisensituationen benötige er umfassende Einzelbetreuung. Wiederholt wird in den Entwicklungsberichten beschrieben, dass Herr S. auch im Bereich der Werkstatt die Tendenz zeigt, sozialen Beziehungen zu viel Gewicht beizumessen zu Lasten seiner Aufgabenbewältigung. Dabei werde deutlich, dass es ihm in diesem Zusammenhang maßgeblich um das Erlangen der Zuwendung und Aufmerksamkeit seiner Betreuer ebenso wie seiner Arbeitskollegen geht und damit um Bestätigung seiner eigenen Person.
Auch hieraus wird deutlich, dass die Beschäftigung des Betroffenen in der Behindertenwerkstatt und die Unmöglichkeit seiner Vermittlung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt primär auf seine psychischen Probleme und damit auf die Schädigung zurückgehen. Die geistige Behinderung wird dagegen kaum thematisiert und problematisiert und tritt im Hinblick auf den Hilfebedarf Herrn S. hinter die alle Lebensbereiche wesentlich prägende und beeinträchtigende psychische Störung zurück. Da es sich hierbei um eine chronisch rezidivierende Störung handelt, ist davon auszugehen, dass diese Wertung trotz etwaiger Stabilisierung durch die erfolgte Betreuung nach wie vor und auch in Zukunft Geltung beanspruchen kann.
Der Erstattungsanspruch wurde durch den Kläger auch rechtzeitig im Sinne des § 111 SGB X angemeldet.
Der Zinsanspruch folgt aus analoger Anwendung der §§ 291, 288 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. § 709 der Zivilprozessordnung.