Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 23.10.2014 | |
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Aktenzeichen | L 3 U 66/13 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 9 SGB 7, Anl 1 Nr 2108 BKV |
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2013 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte erstattet der Klägerin auch die notwendigen außergerichtlichen Kosten des Berufungsverfahrens.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Die 1959 geborene Klägerin begehrt die Anerkennung einer bei ihr vorliegenden Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (BK 2108) – bandscheibenbedingte Erkrankungen der Lendenwirbelsäule durch langjähriges Heben oder Tragen schwerer Lasten oder durch langjährige Tätigkeiten in extremer Rumpfbeugehaltung, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können.
Am 29. Juli 2008 ging die Anmeldung eines Erstattungsanspruchs der gesetzlichen Krankenversicherung der Klägerin bei der Beklagten ein, wonach die Klägerin als Hauskrankenpflegerin tätig sei, bei ihr lumbale Bandscheibenschäden bestünden und sie mithin an der BK 2108 erkrankt sei, weshalb die hierfür erbrachten Leistungen der Krankenversicherung zu erstatten seien. Beigefügt war eine von der Klägerin unter dem 19. Juli 2008 gefertigte Arbeitsvorgeschichte ab Schulentlassung, aus welcher sich unter anderem ergibt, dass sie seit März 1995 als Hauskrankenpflegerin tätig sei, täglich bei der Körperpflege in extremer Rumpfbeugehaltung gearbeitet und Bandscheibenvorfälle erlitten habe. Rückenbeschwerden habe sie erstmals vor ca. sechs Jahren gehabt.
Die Beklagte ließ die Klägerin im Vorfeld einer Rückensprechstunde Fragebögen zu ihrer beruflichen Belastung und ihren Rückenbeschwerden ausfüllen. Daraus ergab sich u.a., dass die Klägerin bis 31. Juli 2008 in der Hauskrankenpflege tätig war und seitdem Gäste in Tagespflege betreute. Die Beklagte ließ von der Arbeitgeberin der Klägerin einen Arbeitsplatz-Erhebungsbogen ausfüllen und ermittelte ein Arbeitsunfähigkeitszeitenverzeichnis der Krankenversicherung der Klägerin. Die Beklagte errechnete für die Klägerin eine Gesamtbelastungsdosis nach dem sog. Mainz-Dortmunder-Dosismodell (MDD) für ihre Tätigkeit im ambulanten Pflegedienst vom 01. März 1995 bis zum 15. Februar 2008 (Beginn der Arbeitsunfähigkeit) von 8,76 MNh.
Die Klägerin ließ sich auf Vorschlag der Beklagten von Dr. R orthopädisch begutachten. In seinem am 29. Juni 2010 aufgrund ambulanter Untersuchung der Klägerin am 18. Juni 2010 erstellten Gutachten diagnostizierte er ein chronisches Lumbalsyndrom mit Pseudoradikulärsymptomatik bei Bandscheibenprotrusion L4/5 und ein Zervikobrachialsyndrom bei Bandscheibenvorfall C6/7 und C5/6. Es liege keine BK 2108 vor. Nach den Konsensempfehlungen liege eine sog. D2-Konstellation vor, bei welcher kein Konsens für die Annahme einer hinreichend wahrscheinlichen berufsbedingten Verursachung bestehe. Der Gewerbearzt empfahl unter dem 11. August 2010, die BK 2108 nicht anzuerkennen.
Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 26. August 2010 die Anerkennung einer BK 2108 im Fall der Klägerin ab und bezog sich i.W. auf das Gutachten von Dr. R. Hiergegen erhob die Klägerin am 14. September 2010 Widerspruch. Sie legte zur Untermauerung ihres Vorbringens u.a. einen Arztbrief des Klinikums B vom 23./ 29. Dezember 2010 vor, aus welchem sich u.a. die Diagnosen Bandscheibenvorfall L4/ L5 nach links kranial sequestriert, Lumboischialgie sowie cervicale Bandscheibendegeneration bei schmerzhaftem HWS-LWS-Syndrom ergeben und wonach der Bandscheibenvorfall mit einer translaminären Sequestrektomie L4 links in mikrochirurgischer Technik am 22. Dezember 2010 therapiert wurde. Ferner hat die Klägerin einen weiteren Arztbrief des Klinikums vom 10. Januar 2011 und - auszugsweise – einen ärztlichen Reha-Entlassungsbericht vorgelegt.
Die Beklagte holte das orthopädische Zusammenhangsgutachten von Dr. E vom 21. Juni 2011 ein. Dieser führte u.a. aus, es bestehe bei der Klägerin ein LWS-Syndrom mit Lumbalgien und Lumboischialgien im Sinne eines pseudoradiculären Schmerzsyndroms bei im MRT nachgewiesenem mäßigen Bandscheibenvorwölbungen und ein Zustand nach Bandscheibenoperation LWK4/5 links mit radiculärer Restsymptomatik. Das von der Beklagten erfragte Bestehen einer plausiblen zeitlichen Korrelation der beruflichen Belastung zur Entwicklung der bandscheibenbedingten LWS-Erkrankung bejahte Dr. E unter Hinweis auf das Vorliegen der arbeitstechnischen Voraussetzungen. Die Exposition sei mit 8,76 MNh ausreichend; die arbeitstechnischen Voraussetzungen seien erfüllt. Es finde sich in der Etage LWK4/5 ein stark ausgeprägter Bandscheibenschaden mit einem Bandscheibenvorfall. Die darüber und darunter liegenden Etagen zeigten keinen nennenswerten Bandscheibenschaden. Die degenerativen Veränderungen an HWS und LWS seien etwas über dem altersüblichen Grad hinausgehend. Das Schadensbild sei belastungskonform, weil bei einer Hauskrankenpflegerin ein besonderes Gefährdungspotenzial durch hohe Belastungsspitzen anzunehmen sei. Es sei nach den Konsensempfehlungen die Konstellation B2 gegeben.
In einem an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin gerichteten Schreiben der Beklagten vom 20. Juli 2011 heißt es:
„… nachdem zwischenzeitlich das Gutachten von Herrn Dr. E vorliegt, beabsichtigen wir vorbehaltlich der Entscheidung des Rentenausschusses die Erkrankung als Berufskrankheit nach Nr. 2108 der Anlage zur Berufskrankheitenverordnung (BKV) anzuerkennen.
Die Anerkennung als BK 2108 setzt voraus, dass Frau K dauerhaft keine wirbelsäulenbelastenden Tätigkeiten ausübt. Wir bitten daher beiliegende Aufgabeerklärung von Ihrer Mandantin ausgefüllt und unterschrieben zurückzusenden.
Hinsichtlich eines noch festzustellenden Rentenanspruchs haben wir vor einer abschließenden Entscheidung eine arbeitsmedizinische Stellungnahme unserer Hauptverwaltung angefordert.
Bereits jetzt bitten wir um Mitteilung, ob Ihrem Widerspruch mit der Anerkennung der Erkrankung als BK 2108 voll abgeholfen ist.“
Mit Schreiben vom 01. September 2011 empfahl der Fachbereich Gesundheitsschutz der Beklagten durch die Ärztin für Arbeitsmedizin Dr. S die Ablehnung einer BK 2108. Sie verwies u.a. darauf, dass die Bandscheibenvorfälle im Bereich der HWS deutlich darauf hinwiesen, dass die Klägerin unter anlagebedingten degenerativen Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule leide. Bis 2004, als erstmals ein Bandscheibenvorfall diagnostiziert worden sei, habe die Klägerin eine Gesamtbelastungsdosis von insgesamt unter 50 % des Lebensarbeitszeitdosiswertes für Frauen erreicht. Eine plausible zeitliche Korrelation zur Entwicklung der bandscheibenbedingten Erkrankung sei so nicht gegeben.
Die Beklagte holte eine weitere Stellungnahme zur Arbeitsplatzexposition ein, welche im Beschäftigungszeitraum bis 25. Februar 2004 eine Gesamtdosis von 6,7 MNh (39 % des Orientierungswerts für Frauen) ergab.
Mit Schreiben vom 11. Oktober 2011 teilte die Beklagte der Klägerin mit, dass nach erneuter medizinischer und rechtlicher Prüfung die Sache nun doch nicht dem Rentenausschuss mit dem Vorschlag der Abhilfe vorgelegt werden könne, sondern beabsichtigt sei, den Widerspruch dem Widerspruchsausschuss mit der Empfehlung vorzulegen, den Widerspruch zurückzuweisen. Zur Begründung wurde i.W. auf die beigefügte Stellungnahme von Dr. S verwiesen.
Mit Widerspruchsbescheid vom 22. November 2011 wies die Beklagte den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück.
Die Klägerin hat ihr Begehren mit der am 21. Dezember 2011 zum Sozialgericht Berlin (SG) erhobenen Klage weiterverfolgt. Sie hat ihr Begehren auf die von Dr. E angestellten Kausalitätserwägungen und auf das ihrer Meinung nach eine bindende Zusicherung darstellende Schreiben der Beklagten vom 20. Juli 2011 gestützt.
Das SG hat mit Urteil vom 20. März 2013 den Bescheid der Beklagten vom 26. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2011 aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, das Vorliegen einer BK 2108 aufgrund der mit Schreiben der Beklagten vom 20. Juli 2011 abgegebenen Zusicherung festzustellen. Insbesondere ergebe eine Auslegung aus der Sicht eines objektiven, rechtsunkundigen Adressaten einen rechtlichen Bindungswillen der Beklagten, die BK 2108 anzuerkennen. Dabei sei auch nicht erkennbar, dass sich die Beklagte noch eine Handlungsalternative habe offen halten wollen. Dies werde durch den letzten Satz des Schreibens ersichtlich, indem dort um Mitteilung gebeten werde, ob mit der Anerkennung der BK dem Widerspruch voll abgeholfen werde. Bereits durch den Bezug auf den Rentenausschuss werde deutlich, dass das Ob der Anerkennung der BK nicht mehr in Zweifel gezogen werde. Es liege auch keine unwirksame oder aufschiebend bedingte Zusicherung vor. Insbesondere habe die Zusicherung nicht wirksam unter den Vorbehalt einer Entscheidung des Rentenausschusses gestellt werden können, weil dieser bei der Anerkennungsentscheidung als solcher nicht mitwirke, sondern nur bei der erstmaligen Bewilligung einer Rente. Schließlich ergebe sich eine fehlende Bindung der Beklagten an die Zusicherung nicht aus einer wesentlichen Änderung der Sach- oder Rechtslage, sondern nur aus einer anderen Beurteilung derselben.
Die Beklagte hat gegen das ihr am 03. April 2013 zugestellte Urteil am 24. April 2013 Berufung eingelegt. Sie verweist darauf, dass der Rentenausschuss auch für die der Rentengewährung vorgelagerten Entscheidungen wie etwa über die Anerkennung des Versicherungsfalls dem Grunde nach zuständig sei.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 19. Juni 2013 unter Bezug auf das Urteil des SG den Verwaltungsakt vom 20. Juli 2011 mit Wirkung für die Zukunft nach § 45 Zehntes Buch des Sozialgesetzbuchs (SGB X) wegen anfänglicher Rechtswidrigkeit zurückgenommen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 20. März 2013 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Berufung der Beklagten zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Wenn die Beklagte mit ihrem Rücknahmebescheid davon ausgehe, dass das Schreiben vom 20. Juli 2011 ein Verwaltungsakt sei, so komme dem Gericht nicht die Kompetenz zu, am Vorliegen eines Verwaltungsakts zu zweifeln.
Die Klägerin hat gegen den Rücknahmebescheid vom 19. Juni 2013 Widerspruch eingelegt.
Der Senat hat aufgrund der Beweisanordnung vom 16. September 2013 ein schriftliches Sachverständigengutachten durch den Facharzt für Orthopädie Dr. S eingeholt, welches er unter dem 28. Oktober 2013 nach einer Untersuchung der Klägerin am 27. September 2013 erstellt hat. Er ist zu dem Ergebnis gekommen, dass eine berufliche Verursachung der bandscheibenbedingten Erkrankung der LWS nicht hinreichend wahrscheinlich sei, da nach den Konsensempfehlungen die Konstellation B5 vorliege.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakten der Beklagten sowie die Gerichtsakten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, verwiesen und inhaltlich Bezug genommen.
Die zulässige Berufung der Beklagten ist unbegründet. Das SG hat die Beklagte zu Recht zur Anerkennung einer BK 2108 verpflichtet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten vom 26. August 2010 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 22. November 2011 ist rechtswidrig und beschwert die Klägerin. Die Voraussetzungen der im Klage- und Berufungsverfahren allein gegenständlichen Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung der BK 2108 liegen vor. Die Klägerin hat einen Anspruch auf die Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung, dass bei ihr die BK 2108 besteht.
Der Anspruch auf Anerkennung der BK 2108 lässt sich bereits aus dem Schreiben der Beklagten vom 20. Juli 2011 ableiten. Es liegt insofern eine entsprechende Zusicherung gemäß § 34 SGB X vor. Unter der gebotenen Zugrundelegung eines verobjektivierten Empfängerhorizonts in der Person der Klägerin ist das Schreiben dahin zu verstehen, dass die Beklagte in rechtlich bindender Weise zusichern wollte, dass dem Widerspruch der Klägern gegen den Bescheid vom 26. August 2011 abgeholfen und eine BK 2108 anerkannt wird. Von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe wird abgesehen, weil die Berufung der Beklagten aus den zutreffenden Gründen des angefochtenen Urteils des SG vom 20. März 2013 als unbegründet zurückzuweisen ist, vgl. § 153 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Hierbei lässt der Senat - anders als das SG im angefochtenen Urteil - es allerdings ausdrücklich dahinstehen, ob dem Rentenausschuss bzgl. der Anerkennung des Bestehens einer BK 2108 überhaupt gemäß § 36a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 lit. a des Vierten Buchs des Sozialgesetzbuchs (SGB IV) i.V.m. § 20 der Satzung der Beklagten die Entscheidungskompetenz zukommt oder nicht (vgl. zur Problematik der Zuständigkeit des Rentenausschusses für die Feststellung eines Arbeitsunfalls: Bundessozialgericht <BSG>, Urteil vom 30. Juni 1999 – B 2 U 24/98 R -, zitiert nach juris; zur Problematik der Entscheidungskompetenz des Rentenausschusses bzgl. der Feststellung eines Versicherungsfalls siehe auch: Ricke in Kasseler Kommentar, SGB VII, Stand 2014, Rn. 5 zu § 102; Köhler in Hauck/Noftz, Gesetzliche Unfallversicherung SGB VII, Stand 2011, Rn. 3b f. zu § 102), weil hier – wie gesagt - ein verobjektivierter Empfängerhorizont maßgeblich ist.
Bei seiner Entscheidung brauchte der Senat auch nicht den während des Berufungsverfahrens von der Beklagten erlassenen Rücknahmebescheid vom 19. Juni 2014 zu berücksichtigen, da dieser nicht nach §§ 153 Abs. 1, 96 Abs. 1 SGG Gegenstand des Verfahrens und im Hinblick auf das laufende Widerspruchsverfahren nicht bestandskräftig geworden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Die Revision ist nicht zuzulassen, weil kein Revisionsgrund nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 SGG vorliegt.