I.
Die am 17. September 1995 und am 13. Mai 1994 in Slubice/Polen geborenen Antragstellerinnen sind wie ihre Mutter, Frau xxx, polnische Staatsangehörige. Sie reisten mit ihrer Mutter am 19. März 2010 in das Bundesgebiet ein. Sie leben zusammen mit Herrn xxx in Frankfurt (Oder), mit dem die Mutter der Antragstellerinnen am 16. März 2010 die Ehe geschlossen hat. Herr xxx besitzt nach den Angaben der Antragstellerinnen sowohl die deutsche als auch die polnische Staatsangehörigkeit.
Mit Bescheid vom 31. März 2010 lehnte der Antragsgegner den Antrag der Antragstellerinnen vom 30. März 2010 auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach dem AufenthG bzw. einer Freizügigkeitsbescheinigung gem. § 5 FreizügG/EU ab und führte im Wesentlichen zur Begründung aus, dass ihr Lebensunterhalt nicht gesichert sei, da ihre Mutter und deren Ehemann Sozialgeld bzw. ALG II beziehen würden.
Den Widerspruch der Antragstellerinnen vom 01. April 2010 bzw. 07. April 2010 wies der Antragsgegner mit Widerspruchsbescheid vom 10. Juni 2010 zurück. Darin stellte er gleichzeitig unter Anordnung der sofortigen Vollziehung den Verlust des Rechts der Antragstellerinnen auf Freizügigkeit gemäß § 5 Abs. 5 FreizügG/EU fest, da die Antragstellerinnen nicht über ausreichende Existenzmittel verfügten. Die Verpflichtung zur Ausreise ergebe sich aus § 7 Abs. 1 FreizügG/EU, wonach Unionsbürger ausreisepflichtig seien, wenn die Ausländerbehörde festgestellt habe, dass das Recht auf Einreise und Aufenthalt nicht bestehe.
Die Antragstellerinnen haben am 12. Juli 2010 Klage erhoben und zugleich den vorliegenden Antrag gestellt.
Sie machen geltend, dass ihnen ein von ihrer Mutter abgeleitetes Freizügigkeitsrecht als Familienangehörige gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 i. V. m. §§ 3, 4 FreizügG/EU zustehe. Denn ihre Mutter, die gelernte Schneiderin und zuletzt im Einzelhandel tätig gewesen sei, halte sich als Unionsbürgerin zur Arbeitssuche in Deutschland auf. Sie sei im Besitz einer „Arbeitsgenehmigung EU“ und absolviere zurzeit einen Sprachkurs. Nach Abschluss desselben werde sie unverzüglich eine Arbeitsstelle antreten. Im Übrigen lägen die Voraussetzungen des § 32 Abs. 3, Abs. 4 AufenthG für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis vor.
Die Antragstellerinnen beantragen,
die aufschiebende Wirkung der Klage wiederherzustellen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag abzuweisen.
Er verteidigt die angefochtenen Bescheide und trägt vor, dass zwar die personensorgeberechtigte Mutter der Antragstellerinnen im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG sei, was nichts daran ändere, dass der Lebensunterhalt der Antragstellerinnen gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht gesichert sei, weshalb die Antragstellerinnen auch nicht gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3 und 4 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt seien.
II.
Der o. g. wörtliche Antrag vom 12. Juli 2010 war gemäß §§ 88, 122 Abs. 1 der Verwaltungsgerichtsordnung - VwGO - dahingehend auszulegen, dass begehrt wird, im Hinblick auf die Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 Aufenthaltsgesetz - AufenthG die aufschiebende Wirkung der Klage wegen § 84 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG anzuordnen und bezüglich der unter Anordnung der sofortigen Vollziehung erfolgten Feststellung des Verlusts der Freizügigkeit gemäß § 5 Abs. 5 Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU wiederherzustellen.
Der so auszulegende Antrag hat größtenteils Erfolg (§ 80 Abs. 5 VwGO).
Bei der im vorliegenden Verfahren gebotenen und allein möglichen summarischen Prüfung überwiegt das Interesse der Antragstellerinnen am einstweiligen Nichtvollzug das öffentliche Vollzugsinteresse. Denn an der Rechtmäßigkeit der angefochtenen Verfügung des Antragsgegners bestehen erhebliche Zweifel.
Zwar dürften die Ausführungen des Antragsgegners in den angefochtenen Bescheiden zutreffen, wonach die Mutter der Antragstellerinnen kein Freizügigkeitsrecht nach § 2 Abs. 1 Freizügigkeitsgesetz/EU - FreizügG/EU genießt, da diese bislang ihre angeblich ernsthafte Absicht, eine Arbeit aufzunehmen, nicht hinreichend - etwa durch die Vorlage von Bewerbungen bzw. einer Bescheinigung über den erwähnten Sprachkurs - glaubhaft gemacht hat. Somit erscheint derzeit zweifelhaft, dass die Mutter der Antragstellerinnen sich zur Arbeitssuche gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in Deutschland befindet. Allein die ausgestellte „Arbeitsgenehmigung EU“ vom 19. März 2010 vermag die Eigenschaft als Arbeitssuchende nicht zu begründen. Die Antragstellerinnen selbst können sich auch nicht auf § 2 Abs. 2 Nr. 6 i. V. m. §§ 3, 4 FreizügG/EU berufen, da jedenfalls ausreichende Existenzmittel der Antragstellerinnen nicht nachgewiesen sind. Denn offensichtlich lebt ihre Mutter mit ihrem deutschen Ehemann ausweislich des Bescheides der Arbeitsgemeinschaft xxx vom 17. Mai 2010 zurzeit von Sozialhilfeleistungen. Insoweit konnte der Antrag auf Eilrechtsschutz auch keinen Erfolg haben.
Die Ablehnung der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 32 AufenthG, wodurch die Antragstellerinnen letztlich ausreisepflichtig werden (§ 50 Abs. 1 AufenthG), unterliegt jedoch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz - GG erheblichen Bedenken. Zwar ist die Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG nicht erfüllt. Der Lebensunterhalt der Antragstellerinnen ist nicht anders als durch öffentliche Leistungen gesichert. Allerdings spricht hier Überwiegendes dafür, von der Regelerteilungsvoraussetzung der Sicherung des Lebensunterhaltes wegen des Vorliegens eines Ausnahmefalles abzusehen. Denn nachdem der Antragsgegner ausgehend von seiner Äußerung in dem Schriftsatz vom 03. August 2010 S. 2 der Mutter der Antragstellerinnen im Hinblick auf die Eheschließung mit deren deutschem Ehemann offensichtlich eine Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG erteilt hat, würde die Entscheidung des Antragsgegners im Ergebnis zu einer Trennung der minderjährigen Antragstellerinnen von ihrer allein sorgeberechtigten Mutter führen. Zwar ergibt sich für Kinder von Ausländern regelmäßig aus Art. 6 Abs. 1 GG kein Anspruch auf Nachzug zu ihren in der Bundesrepublik Deutschland lebenden Eltern (BVerwGE 65, 188/193; BVerwG DÖV 1983, 204; Jarass, Grundgesetz, Kommentar, 10. Auflage 2009, Art. 6 Rdn. 34). Erfüllt jedoch die Familie die Voraussetzungen einer Beistandsgemeinschaft und kann dieser Beistand nur im Bundesgebiet unter zumutbaren Umständen geleistet werden, überwiegt der Familienschutz regelmäßig einwanderungspolitische Belange (BVerwGE 109, 305, 311). So kann grundsätzlich ein minderjähriger Ausländer, dessen Eltern oder dessen allein personensorgeberechtigter Elternteil sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhalten, nicht ausgewiesen werden, es sei denn, er ist wegen serienmäßiger Begehung nicht unerheblicher, vorsätzlicher Straftaten oder einer besonders schweren Straftat rechtskräftig verurteilt worden (Badura in: Maunz-Dürig, Grundgesetz, Kommentar Art. 6, S. 43, 44). Ausgehend davon spricht vieles dafür, dass den Antragstellerinnen - wenn sie schon nicht freizügigkeitsberechtigt sind - jedenfalls eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 11 Abs. 2 FreizügG/EU i. V. m. § 32 AufenthG zu erteilen ist. Zwar weist der Antragsgegner zutreffend darauf hin, dass für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich die allgemeinen Voraussetzungen des § 5 AufenthG vorliegen müssen. Es handelt sich dabei jedoch - wie oben angeführt - um Regeltatbestände, von denen Ausnahmen zulässig sind.
Ein Ausnahmefall liegt bei besonderen, atypischen Umständen vor, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen. Er besteht auch dann, wenn entweder aus Gründen höherrangigen Rechts wie Art. 6 GG oder im Hinblick auf Art. 8 EMRK die Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Familiennachzug geboten ist. Dies ist nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung der Fall, wenn die Herstellung der Familieneinheit im Herkunftsland nicht möglich ist. So liegt es hier.
Den Antragstellerinnen dürfte die Herstellung der Familieneinheit mit ihrer Mutter und deren deutschen Ehemann nicht in Polen möglich sein. Einerseits steht dem das gesicherte Aufenthaltsrecht der Mutter der Antragstellerinnen entgegen; soweit der Stiefvater zugleich die polnische Staatbürgerschaft besitzt und er die Familie nach Polen begleiten könnte, ist - zumindest - offen, ob dem Stiefvater der Antragstellerinnen auch deshalb nicht zugemutet werden kann, Deutschland zu verlassen und nach Polen auszureisen, weil einer solchen Obliegenheit sein verfassungsrechtlich geschütztes Recht (als Deutscher) auf Freizügigkeit entgegenstehen könnte (Art. 11 Abs. 1 GG). Wenn aber dem deutschen Stiefvater nicht zugemutet werden kann, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen, kann der Mutter der Antragstellerinnen als dessen Ehefrau mit Blick auf Art. 6 GG auch nicht zugemutet werden, Deutschland zu verlassen. Andernfalls könnte sie die Familiengemeinschaft mit ihrem deutschen Ehemann nicht aufrecht erhalten. Wenn der Mutter eine Ausreise nicht zugemutet werden kann, können die Antragstellerinnen auch nicht mit ihr in Polen die Familiengemeinschaft aufrecht erhalten (vgl. hierzu die Konstellation in VG Münster, Beschluss vom 11. Februar 2009 - 8 K 1720/07 juris).
Des Weiteren weisen die Antragstellerinnen zu Recht darauf hin, dass ihnen bei Vollziehung der Entscheidung des Antragsgegners Obdachlosigkeit drohen würde, da ihre Mutter nach ihrer Eheschließung die Wohnung in Polen aufgegeben hat. Die Kammer hat keinen Anlass, an diesem nachvollziehbaren Vorbringen zu zweifeln. Im Hinblick auf die Antragstellerin zu 2), die bereits das 16. Lebensjahr vollendet hat, wäre zunächst § 32 Abs. 2 AufenthG einschlägig, wonach einem minderjährigen ledigen Kind, welches das 16. Lebensjahr vollendet hat, eine Aufenthaltserlaubnis zu erteilen ist, wenn es die deutsche Sprache beherrscht oder gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse in die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland einfügen kann und beide Eltern bzw. der allein personensorgeberechtigte Elternteil eine Aufenthaltserlaubnis besitzt. Sofern jedoch diese Voraussetzungen etwa in Bezug auf die Beherrschung der deutschen Sprache nicht erfüllt sein sollten, spricht jedoch nach den vorstehenden Ausführungen Überwiegendes für das Vorliegen einer besonderen Härte gemäß § 32 Abs. 4 AufenthG, bei der nach Ermessen das Kindeswohl und die familiäre Situation zu berücksichtigen sind (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Auflage, 1/§ 32, Rdnr. 23).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Streitwertfestsetzung ergibt sich aus §§ 52 Abs. 1, 53 Abs. 3 des Gerichtskostengesetzes. Der für jede Antragstellerin gesondert in Ansatz zubringende Auffangstreitwert war wegen der Vorläufigkeit des Begehrens jeweils auf die Hälfte zu ermäßigen.
Den Antragstellerinnen war Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt xxx aus Frankfurt (Oder) zu gewähren, da sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen können, die beabsichtigte Rechtsverfolgung nach den vorstehenden Ausführungen hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 166 VwGO i. V. m. §§ 114 ff. ZPO).