Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 11. Senat | Entscheidungsdatum | 31.10.2019 | |
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Aktenzeichen | OVG 11 S 63.19 | ECLI | ECLI:DE:OVGBEBB:2019:1031.11S63.19.00 | |
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 60a Abs 2 S 1 AufenthG, Art 20 AEUV, § 146 Abs 4 VwGO, § 114 ZPO, Art 21 AEUV, § 166 VwGO |
Der Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 12. August 2019 wird mit Ausnahme der Streitwertfestsetzung geändert.
Dem Antragsgegner wird im Wege einstweiliger Anordnung untersagt, den Antragsteller bis zur Entscheidung im Klageverfahren VG 15 K 204.19 abzuschieben.
Die Kosten des Verfahrens beider Rechtszüge trägt der Antragsgegner.
Der Wert des Beschwerdegegenstandes wird auf 2.500,00 EUR festgesetzt.
I.
Der vietnamesische Antragsteller wendet sich mit seiner Beschwerde gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts vom 12. August 2019 insoweit, als dort sein Antrag, dem Antragsgegner im Wege einstweiliger Anordnung seine Abschiebung zu untersagen, zurückgewiesen worden ist. Darüber hinaus begehrt er die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren.
Der sich unstreitig schon länger unerlaubt im Bundesgebiet aufhaltende Antragsteller, dem bereits in einem früheren Bescheid die Abschiebung angedroht worden war, beantragte am 1. November 2018 - unter Verweis auf die bevorstehende Geburt eines gemeinsamen Kindes mit seiner eine Aufenthaltserlaubnis gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG besitzenden vietnamesischen Lebensgefährtin T... (nachfolgend: Frau N...) und unter Vorlage einer diesbezüglichen notariellen Vaterschaftsanerkennung sowie gemeinsamen Sorgerechtserklärung - u.a. die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 25 Abs. 5 AufenthG ab der Geburt des Kindes. Dabei wies der Antragsteller darauf hin, dass zur familiären Lebensgemeinschaft auch das am 2. November 2017 geborene deutsche Kind T... seiner Lebensgefährtin gehöre, das der Ehe mit einem deutschen Staatsangehörigen entstamme.
Das am 28. November 2018 geborene gemeinsame Kind des Antragstellers und der Frau N...,H...,besitzt die vietnamesische Staatsangehörigkeit.
Mit Bescheid vom 2. April 2019 lehnte der Antragsgegner - unter Festsetzung einer Sperrfrist für den Fall seiner Abschiebung - den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ab. Zwar sei eine emotionale Vater-Kind-Beziehung zu seinem Sohn belegt, auch wohne er nachweislich mit diesem, der Kindesmutter und ihrem deutschen Sohn zusammen, der ihm bei der polizeilichen Hausermittlung trotz Anwesenheit seiner Mutter nicht von der Seite gewichen sei, eine Befragung der Frau N... und des leiblichen Vaters dieses deutschen Kindes habe jedoch ergeben, dass zu Letzterem eine emotionale Vater-Kind-Beziehung bzw. schützenswerte enge Bindung nicht bestehe, so dass ihnen eine gemeinsame Übersiedlung nach Vietnam zumutbar sei.
Hiergegen hat der Antragsteller die Klage VG 15 K 204.19 erhoben. Ferner hat er den erstinstanzlich erfolglos gebliebenen Antrag auf Untersagung der Abschiebung im Wege einstweiliger Anordnung sowie auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe gestellt.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers ist zulässig und begründet. Die hiermit vorgebrachten Gründe rechtfertigen es, den angefochtenen Beschluss zu ändern und dem Antrag auf Untersagung seiner Abschiebung im Wege einstweiliger Anordnung stattzugeben (1.). Einer Entscheidung über die zusätzlich beantragte Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Beschwerdeverfahren bedarf es angesichts dessen nicht (2.)
1. Entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts existieren bei der nur möglichen summarischen Prüfung mit Blick auf den hier vorliegenden faktischen Zwang für das erst knapp zwei Jahre alte deutsche Kind T... zur Ausreise mit seiner Mutter und dem Antragsteller nach Vietnam und der damit einhergehenden Beeinträchtigung der praktischen Wirksamkeit des Kernbestands seiner Unionsbürgerschaft überwiegende Anhaltspunkte für das Vorliegen eines aus Art. 20 und 21 AEUV abzuleitenden rechtlichen Abschiebungshindernisses gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, die eine dem Hauptsacheverfahren vorzubehaltende Prüfung aller Umstände des konkreten Falls gebieten.
Zwar beschränkt sich die Annahme eines rechtlichen oder faktischen Zwangs zum Verlassen des Unionsgebiets für einen minderjährigen Unionsbürger und damit die Beseitigung der praktischen Wirksamkeit der Unionsbürgerschaft auf seltene Ausnahmefälle, in denen ein rechtliches, wirtschaftliches oder affektives Abhängigkeitsverhältnis vom Drittstaatsangehörigen in der Weise besteht, dass sich das betroffene Kind zum Verlassen des Unionsgebiets gezwungen sähe, wenn diesem ein Aufenthaltsrecht verweigert würde (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15/12 -, juris Rz. 31 f. unter Verweis auf die diesbezügliche Rechtsprechung des EuGH). Hiernach bedarf es der Prüfung aller Umstände des konkreten Falles, wobei es beim Leben des schutzbedürftigen minderjährigen Unionsbürgers in einer „Patchwork-Familie“ - wie hier - der Einbeziehung der sich aus den Besonderheiten dieser familiären Lebensgemeinschaft ergebenden Umstände bedarf (BVerwG, a.a.O., Rz. 33).
Für das Vorliegen eines solchen Falles der Abhängigkeit des deutschen Kindes T... vom Antragsteller sind hier gewichtige Anhaltspunkte dargelegt und glaubhaft gemacht:
Ersichtlich bilden der Antragsteller, Frau N..., deren Anfang November 2017 geborener deutscher Sohn T... und der am 28. November 2018 geborene gemeinsame Sohn H... eine familiäre Lebensgemeinschaft. Dies ergibt sich zum einen aus der Ausländerakte des Antragstellers, beispielsweise aus dem polizeilichen Tätigkeitsbericht vom 8. Januar 2019 über die Hausermittlung am 4. Januar 2019 in der gemeinsamen Wohnung, wonach „keinerlei Zweifel am Vorliegen der schützenswerten Lebensgemeinschaft noch an der Personensorge oder am tatsächlichen Lebensmittelpunkt des N. und der restlichen Personen“ (Frau N... und beider Kinder) bestünden, zum anderen aber auch aus den im vorliegenden Verfahren vorgelegten eidesstattlichen Versicherungen, u.a. von Frau Nguyen vom 13. September 2019. Dies wird vom Antragsgegner im Übrigen aber auch eingeräumt.
Es bestehen ferner erhebliche Anhaltspunkte für ein affektives Abhängigkeitsverhältnis des zu diesem familiären Verbund gehörenden deutschen Sohnes der Frau N... zum Antragsteller, ohne dass es insoweit darauf ankommt, dass Letzterer nicht der biologische Vater von T... ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013, a.a.O., Rz. 33). So heißt es im genannten polizeilichen Tätigkeitsbericht vom 8. Januar 2019: „Weiterhin hat der N. auch offensichtlich eine enge Bindung zum 1-jährigen T..., denn dieser wich während der pol. Maßnahmen dem N. nicht von der Seite.“ Darüber hinaus ist auf die eidesstattliche Versicherung der Frau N... vom 13. September 2019 zu verweisen, in der sie diesbezüglich Folgendes erklärt hat: „T... hat auch ein sehr gutes Verhältnis zu meinem Lebensgefährten Herrn N.... Da dieser mit uns zusammenwohnt und sich um die Kinder kümmert, füllt er immer so etwas wie die Vaterersatzrolle aus. Die beiden mögen sich. Herr N..., sorgt um ihn, wie für sein eigenes Kind. Das betrifft Hygiene, Ernährung, aber auch Erziehung. T... hört auch auf ihn. Ich freue mich, dass das klappt und dass Herr N... diese Rolle annimmt.“
Das Vorliegen eines unionsrechtswidrigen faktischen Zwangs zur Ausreise für T... ist auch nicht mit Blick darauf in Zweifel zu ziehen, dass seine der familiären Lebensgemeinschaft angehörende Mutter Frau N... über eine sie auch zur Erwerbstätigkeit berechtigende Aufenthaltserlaubnis - nunmehr nach der am 20. November 2018 erfolgten Scheidung von ihrem früheren deutschen Ehegatten H... - gemäß § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG verfügt. Denn diese hat in ihrer o.g. eidesstattlichen Versicherung erklärt, dass sie im Falle, dass der Antragsteller nach Vietnam ausreisen müsse, ihm mit ihren Kindern folgen würde, da sie „jetzt eine feste Familie“ seien, die sie „trotz der wunderschönen Bindung“ von T... zur Familie seines leiblichen Vaters nicht aufgeben würde.
Diesbezüglich - nach dem o.g. rechtlichen Ausgangspunkt ist im Rahmen der erforderlichen Prüfung aller Umstände des konkreten Falles auch die Verhinderung der Fortführung eines bestehenden Kontaktes zum leiblichen Vater des Kindes zu berücksichtigen (BVerwG, Urteil vom 30. Juli 2013 - 1 C 15/12 -, juris Rz. 33) - hatte Frau N... in ihrer eidesstattlichen Versicherung erklärt, T... pflege ein „schönes, immer stärker und intensiver werdendes Verhältnis“ zu seinem (leiblichen) Vater und dessen Familie, so seien seine Tante und seine Großmutter neben seinem Vater immer für ihn da. Zwar hatte der Antragsgegner in seinem Bescheid vom 2. April 2019 - und das Verwaltungsgericht ist dem gefolgt - zutreffend auf das Bestehen erheblicher Widersprüche in den Erklärungen von Frau Nguyen und ihres früheren Ehemannes bei ihrer zeitgleichen behördlichen Befragung am 18. März 2019 hinsichtlich der von diesem geleisteten Unterhaltszahlungen und der Umstände seiner Besuchskontakte zu T... verwiesen. Diese Widersprüche hat Frau N... in ihren eidesstattlichen Versicherungen vom 2. August und 13. September 2019 jedoch mit Erläuterungen bzw. Erklärungen aufzulösen versucht (Missverständnis bezüglich der Höhe der Unterhaltszahlungen, Befürchtung behördlicher Fehlschlüsse im Fall des Einräumens von Besuchen ihres geschiedenen Ehemannes in der gemeinsamen Wohnung mit dem Antragsteller und ein unterschiedliches Verständnis des Begriffes „gemeinsames Feiern“), die zumindest nicht gänzlich unplausibel sind. Mit Blick darauf, dass auch der hier lebende leibliche Vater durch eidesstattliche Versicherungen vom 2. August 2019 und insbesondere vom 13. September 2019 das Bestehen regelmäßiger Besuchskontakte zu seinem Sohn T... näher dargelegt hat und mit der Beschwerde diesbezüglich auch diverse Fotos vorgelegt worden sind, bedarf es insoweit der im vorliegenden Eilverfahren nicht möglichen weiteren Sachaufklärung zum tatsächlichen Umfang dieser Kontakte.
Dabei wird auch zu prüfen sein, inwieweit einer Ausreise von T... - zusammen mit dem Antragsteller und seiner Mutter sowie seinem Halbbruder - nach Vietnam seine Stoffwechselkrankheit - Adrogenitales Syndrom mit Salzverlust - entgegensteht (vgl. die eidesstattliche Versicherung der Frau N... vom 13. September 2019 und das diesbezügliche ärztliche Attest der Charite vom 24. August 2018).
2. Da die Beschwerde des Antragstellers nach den obigen Ausführungen zu 1. in vollem Umfang Erfolg hat und demzufolge die Kosten auch des Beschwerdeverfahrens dem Antragsgegner aufzuerlegen waren, bedarf es der vom Antragsteller zusätzlich beantragten Bewilligung von Prozesskostenhilfe nicht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 47 Abs. 1, § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).