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Asylrecht


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Gericht VG Cottbus 3. Kammer Entscheidungsdatum 09.10.2020
Aktenzeichen 3 K 1489/16.A ECLI ECLI:DE:VGCOTTB:2020:1009.3K1489.16.00
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 30 Abs 1 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG

Leitsatz

1) Ein Rechtsschutzbedürfnis für die Aufhebung eines Offensichtlichheitsanspruchs nach § 30 Abs. 1 AsylG im Hauptsacheverfahren besteht jedenfalls dann, wenn der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO zuvor erfolglos war.

2) Im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG sind auch Unterhaltskosten für im Ausland lebende Kernfamilie im Rahmen einer Gesamtabwägung zu berücksichtigen, sofern (glaubhaft) eine Beistandsgemeinschaft besteht.

Tenor

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, wird das Verfahren eingestellt.

Der Bescheid der Beklagten vom 18. August 2016 wird hinsichtlich der Ziffern 4 bis 6 und insoweit aufgehoben, als dass in den Ziffern 1 und 3 die Antragsablehnung als „offensichtlich unbegründet“ erfolgt. Die Beklagte wird verpflichtet, für den Kläger ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz nach Afghanistan festzustellen.

Die Kosten des Gerichtskostenverfahrens tragen der Kläger und die Beklagte je zur Hälfte.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung gegen Leistung einer Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht zuvor der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Der Kläger, nach eigenen Angaben afghanischer Staatsangehöriger vom Volke der Hazara und schiitischer Religionszugehörigkeit, reiste am 02. August 2015 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellten am 22. September 2015 einen Asylantrag.

In seiner Anhörung vor dem Bundesamt am 06. Juli 2016 gab der Kläger folgendes an: Er sei aus Furcht vor Verfolgung wegen eines Mordes aus seinem Heimatland ausgereist. Er habe in einem Dorf in der Provinz Ghazni ohne Problemen mit staatlichen Stellen oder nichtstaatlichen Organisationen zusammen mit seiner Ehefrau und seinen Töchtern gelebt. Er sei bis zur sechsten Klasse in die Schule gegangen und habe danach auf dem Bau gearbeitet. In den letzten zwei Jahren vor der Ausreise sei er vom Dorf als Landschaftswächter angestellt gewesen. Er habe den Bestand und die Pflege der dorfeigenen Aufforstungsgebiete überwacht. Im Rahmen dieser Tätigkeit habe er bei einer Kontrolle per Fernglas Personen paschtunischer Volkszugehörigkeit aus einem Nachbardorf beobachtet, die einen blutigen Leichnam beerdigt hätten. Der Dorfmullah habe ihm erzählt, dass er für den Mord an dieser Person vor dem Nachbardorf verantwortlich gemacht worden sei. Aus Furcht vor einer Vergeltung habe er seine Tätigkeit beendet und sei aus seinem Heimatland ausgereist. Er habe sich von allen verabschiedet und sei nach Kabul gegangen und sei dort eine Woche geblieben, bis sein Pass ausgestellt worden sei. Von dort sei er nochmal nach Hause und dann nach Kandahar, wo er 12 Tage geblieben sei. Dann sei er mit dem Visum in den Iran gereist. In Afghanistan lebten noch seine Mutter sowie ein Bruder und fünf Schwestern. Eine weitere Schwester lebe in London. Um die Ausreise zu finanzieren, habe er sich 3.000,00 Euro bei seinem Cousin, der im Iran lebt, geliehen. Weitere 4.000,00 Euro habe sein Onkel bezahlt.

Mit Bescheid vom 18. August 2016 lehnte das Bundesamt die Anerkennung der Klägers als Asylberechtigten, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und auf subsidiären Schutz als offensichtlich unbegründet ab (Ziffern 1 bis 3) und stellte fest, dass keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 u. 7 S. 1 AufenthG vorliegen (Ziffer 4). Gleichzeitig forderte das Bundesamt den Kläger auf, das Bundesgebiet innerhalb von 30 Tagen nach Bekanntgabe der Entscheidung, im Falle einer Klageerhebung innerhalb von 30 Tagen nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens, zu verlassen und drohte ihnen für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise die Abschiebung nach Afghanistan an (Ziffer 5). Zudem setzte es das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung fest (Ziffer 6). Die angebliche Furcht vor Verfolgung beruhe allein auf eine angebliche Mitteilung des Dorfmullahs. Vergeltungsmaßnahmen der Bewohner des Nachbardorfs seien nicht erfolgt. Auch sei er nicht von staatlichen Stellen behelligt worden. Er habe offenbar noch ohne Schwierigkeiten einen Pass und ein Visum beantragen können. Der Kläger sei offensichtlich kein Flüchtling. Auch drohe ihm offensichtlich kein ernsthafter Schaden im Sinne des subsidiären Schutzes. Auch Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Der Kläger sei im erwerbsfähigen Alter und verfüge in Afghanistan über ein familiäres Netzwerk, so dass er in der Lage sei, ggf. an einem anderen Ort eine wirtschaftliche Existenz aufzubauen und seinen Lebensunterhalt zu sichern.

Mit seiner am 26. August 2016 erhobenen Klage verfolgt der Kläger sein Begehren weiter. Die Voraussetzungen für die Ablehnung als offensichtlich unbegründet lägen offensichtlich nicht vor. Als Volksangehöriger der Hazara drohe dem Kläger Gruppenverfolgung. Die Anhörung sei auf Farsi und nicht in Dari erfolgt, so dass es Missverständnisse gegeben habe. Der Begriff „Naturschützer“ sei unzutreffend, es handele sich eher um eine Art Wache, wonach Gebiet im Gebirge bewacht werden. Die Eigentümer bestimmten jemanden, der diese Gegenden im Gebirge bewachen solle. Dies sei auch Aufgabe des Klägers gewesen. Als ein paschtunischer Wächter getötet worden sei, sei der Verdacht auf den Kläger gefallen. Es liege jedenfalls aufgrund der Corona-Pandemie ein Abschiebungsverbot vor. Seinen zeitgleich eingelegten Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung hat die 5. Kammer des V... mit Beschluss vom 12. September 2016 abgelehnt (VG 5 L 410/16.A). Zudem hat der Kläger eine psychologisch-gutachterliche Stellungnahme von K... vom 30. Juni 2017 vorgelegt, die unter anderem eine posttraumatische Belastungsstörung, und eine Depression (gegenwärtig mittelgradige Episode mit Somatisierung, anamnestisch auch schwere Episoden) diagnostiziert.

Nachdem der Kläger in der mündlichen Verhandlung die Klage zurückgenommen hat, soweit sie den Offensichtlich-Unbegründetheits-Ausspruch und die Feststellung von Abschiebungsverboten übersteigt, beantragt er nunmehr sinngemäß,

den Bescheid vom 18. August 2016 im Übrigen aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich,

die Klage abzuweisen.

Zur Begründung nimmt sie Bezug auf den Inhalt des angegriffenen Bescheides.

Für die weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen, die jeweils zum Gegenstand der mündlichen Verhandlung gemacht worden sind.

Entscheidungsgründe

Das Gericht konnte trotz Ausbleibens der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, da in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden war, § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

Soweit die Klage zurückgenommen worden ist, ist das Verfahren nach § 92 Abs. 3 VwGO einzustellen.

Im Übrigen hat die Klage Erfolg. Der Bescheid des Bundesamtes vom 18. August 2016 ist – soweit er noch angefochten wird – nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1, 1. HS AsylG) rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 S. 1 VwGO. Die Ablehnung seines Antrags auf internationalen Schutz als offensichtlich unbegründet ist rechtswidrig (hierzu 1.) und er hat einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach Afghanistan gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat (hierzu 2.).

1. Die Einschätzung des Bundesamtes, der Antrag des Klägers sei nach § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet, ist rechtswidrig.

Zunächst bestehen in der hier zu entscheidenden Konstellation keine durchgreifenden Zweifel am Rechtsschutzbedürfnis im Hinblick auf den isolierten Anfechtungsantrag in Bezug auf die Offensichtlichkeitsentscheidung des B... . Ein Rechtsschutzbedürfnis ergibt sich hier jedenfalls daraus, dass der Klage bei der Antragsablehnung als offensichtlich unbegründet keine aufschiebende Wirkung zukommt und der Antrag des Klägers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung vorliegend mit Beschluss vom 12. September 2016 abgelehnt wurde (VG 5 L 410/16.A), vgl. § 75 Abs. 1 AsylG. Bei sonstiger Ablehnung i.S.v. § 38 Abs. 1 AsylG würde die Klage jedoch aufschiebende Wirkung entfalten; auch würde die dem Ausländer zu setzende Ausreisefrist 30 Tage (nach dem unanfechtbaren Abschluss des Asylverfahrens) betragen, während bei offensichtlicher Unbegründetheit dem Ausländer lediglich eine Ausreisefrist von einer Woche aufzuerlegen ist (vgl. so auch: VG Trier, Urt. v. 13. Februar 2019 – 1 K 6155/17.TR –, juris, Rn. 59-64, m.w.N.; VG Bayreuth, Urt. v. 22. August 2018 – B 8 K 17.31115 –, juris, Rn. 29; so auch bereits: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 11. November 1997 – A 14 S 412/97 –, juris, Rn. 37). Auf die Frage, ob das Rechtsschutzbedürfnis für eine isolierte Aufhebung der Offensichtlichkeitsentscheidung nach § 30 Abs. 1 AsylG im Falle eines erfolgreich durchgeführten Eilverfahrens fehlt, weil mit dem Ausspruch keine negativen Folgen (mehr) für den Asylbewerber verbunden sind (arg. ex § 10 Abs. 3 S. 2 AufenthG; vgl. OVG des Landes Sachsen-Anhalt, Beschl. v. 25. Juli 2019 – 2 L 57/18 –, juris, Rn. 10, m.w.N.; VG Berlin, Urt. vom 13. August 2020 – 34 K 639.17 A –, juris, Rn. 14), kommt es damit vorliegend nicht an.

Die isolierte Anfechtungsklage ist auch begründet. Die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 AsylG sind vorliegend nicht erfüllt. Danach ist ein Antrag dann offensichtlich unbegründet, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen für die Zuerkennung internationalen Schutzes offensichtlich nicht vorliegen. Dies ist anzunehmen, wenn an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen des B... vernünftigerweise keine Zweifel bestehen und sich bei einem solchen Sachverhalt die Ablehnung geradezu aufdrängt (vgl. BVerfG, Beschl. v. 20. Dezember 2006 – 2 BvR 2063/06 –, juris). Es muss sich aufdrängen, dass weder die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft noch die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes gegeben sind (vgl. VG Berlin, Beschl. v. 16. März 2017 – 9 L 146.17 A –, juris, Rn. 7; vgl. grundsätzlich hierzu: Bergmann, in: Bergmann/Dienelt/Bergmann, 13. Aufl. 2020, AsylG § 30, Rn. 7).

So liegt der Fall hier nicht. Denn auch wenn der Vortrag des Klägers im Rahmen der Anhörung zwar teilweise als unglaubhaft und detailarm zu bewerten gewesen sein dürfte, ist er aber nicht – wie es das Gesetz in richtlinienkonformer Auslegung (vgl. Art. 32 Abs. 2 i.V.m. Art. 31 Abs. 8 lit. a der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes) gebietet – etwa ohne Belang und von vornherein ungeeignet, die Zuerkennung internationalen Schutzes zu tragen. Es kann dabei offen bleiben, ob Angehörige der ethnischen Minderheit der Hazara in Afghanistan offensichtlich keiner Gruppenverfolgung unterliegen. Denn jedenfalls drängt es sich nicht auf, dass die Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG nicht vorliegen.

Ein Ausländer ist gemäß § 4 Abs. 1 S. 1 AsylG subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 AsylG unter anderem eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts. Dass der Kläger – bei dem es sich mangels entgegenstehender Anhaltspunkte um eine Zivilperson handelt – in Afghanistan nicht in diesem Sinne bedroht wäre, mag anzunehmen sein, drängt sich aber nicht auf. Dass das Vorliegen der Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG bei afghanischen Antragstellern in der obergerichtlichen Rechtsprechung, soweit ersichtlich, zuletzt durchweg verneint wurde, rechtfertigt keine andere Bewertung. Denn die Verneinung einer ernsthaften individuellen Bedrohung für das Leben oder die Unversehrtheit eines Schutzsuchenden in Afghanistan ist stets das Ergebnis einer Einzelfallprüfung, welche eine Auswertung der aktuellen Erkenntnismittel zur dortigen Sicherheitslage erfordert (vgl. so auch: VG Berlin, Beschl. v. 16. März 2017 – 9 L 146.17 A –, juris, Rn. 8-11, m.w.N.).

2. Der Kläger hat zudem einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG.

Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 04. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) wegen der Unvereinbarkeit mit Art. 3 EMRK insbesondere dann der Fall, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung der ernsthaften Gefahr der Todesstrafe, der Folter oder der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Bestrafung ausgesetzt wäre (vgl. EGMR, Urt. v. 23. März 2016, F.G. gegen Schweden, Nr. 43611/11, Rn. 10; Urt. v. 28. Juni 2011, Sufi und Elmi gegen Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 u.a., Rn. 212). Für die Beantwortung der Frage, ob den Ausländer im Falle einer Abschiebung tatsächlich die Gefahr droht, einer dem Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden, sind die Verhältnisse im ganzen Land in den Blick zu nehmen, wobei in einem ersten Schritt die Verhältnisse am Zielort der Abschiebung zu prüfen sind. Dieser Ankunfts- bzw. Endort der Abschiebung ist hier Kabul, wohin die aus Deutschland durchgeführten Abschiebeflüge nach Afghanistan in der Regel führen (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 12. Oktober 2018 – A 11 S 316/17–, juris, Rn. 202 f.).

Die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann sich zum einen wiederum aus individuellen Umständen in einer Person des Ausländers ergeben. Zum anderen kann sie aber auch in besonderen Ausnahmefällen aus der allgemeinen Sicherheits- und humanitären Lage im Abschiebezielstaat resultieren, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung zwingend sind. Für die Annahme einer solchen extremen Gefahrenlage ist erforderlich, dass die drohenden Gefahren nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sind, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise ein Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Diese Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen (st. Rspr., vgl nur BVerwG, Urt. v. 31. Januar 2013 – 10 C 15/12 –, juris, Rn. 23 ff., m.w.N.).

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist das Gericht davon überzeugt, dass dem Kläger in seinem besonderen Einzelfall mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit aufgrund einer außergewöhnlichen Sicherheits- und humanitären Lage die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Afghanistan sowie insbesondere in der Stadt Kabul als Ankunftsort droht. Dies gilt vor allem wegen der Ausbreitung der Corona-Pandemie.

a) Allgemein stellt sich die Lage – vor Ausbruch der Corona-Pandemie – wie folgt dar:

Im Jahr 2018 belegte Afghanistan lediglich Platz 170 von 189 des Human Development Indexes (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 26). Gemessen an seinem Bruttoinlandsprodukt war Afghanistan im Jahr 1960 das sechstärmste Land der Welt und konnte seinen Rang bis zum Jahr 2016 nur um sechs Plätze verbessern (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 23). Das Wirtschaftswachstum bewegt sich im unteren einstelligen Bereich und betrug im Jahr 2017 etwa 2,7 %. Im Jahr 2018 war infolge der Dürre ein Rückgang auf 1,5 % zu verzeichnen, wobei in diesem Jahr jedoch ein erneuter Anstieg auf 2,9 % erwartet wird, da es ergiebigere Niederschläge gegeben hat, welche dem Agrarsektor zu Gute gekommen sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Für das Jahr 2021 wurde – vor Ausbruch der allgemeinen Pandemielage – mit einem Wirtschaftswachstum von 3,6 % gerechnet (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 24).

Dem steht indes ein rapides Bevölkerungswachstum sowie die Verbesserung der Lebenserwartung gegenüber, was es dem afghanischen Staat – neben der Sicherheitslage – nahezu unmöglich macht, alle Grundbedürfnisse der gesamten Bevölkerung angemessen zu befriedigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Die Grundversorgung ist für Rückkehrer in besonderem Maße eine Herausforderung. Insgesamt waren in Afghanistan im Jahr 2019 6,3 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Diese Zahl soll nach Schätzungen im Jahr 2020 auf 14 Millionen steigen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 22). Besondere Probleme bezüglich Unterkunft, Nahrung, sauberem Trinkwasser und medizinischer Versorgung bestehen vor allem in den westlichen Provinzen sowie in Kunduz, Ghazni, Laghman und Kunar (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28).

Die Nahrungsmittelversorgung hat sich seit dem Jahr 2011 kontinuierlich verschlechtert. Während damals noch 30,1 % der afghanischen Bevölkerung unter moderater bis sehr schwerer Nahrungsmittelunsicherheit gelitten haben, stieg diese Zahl bis zum Jahr 2017 auf 44,6 %. In der Winterpflanzsaison 2017/2018 kam es in Afghanistan zu einer langen Dürrperiode, die mehr als zwei Drittel der afghanischen Bevölkerung betroffen hat und zu Gesundheitsproblemen und Einkommensreduzierungen um die Hälfte geführt hat (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Demgegenüber kam es in der ersten Jahreshälfte 2019 zu erheblichen Überschwemmungen im Süden, Westen und Norden des Landes, was ebenfalls mit wirtschaftlichen Problemen und Ernteausfällen einherging (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 28).

Etwa 27 % der im Jahr 2017 nach Afghanistan Zurückgekehrten mussten ihre Nahrungsaufnahme einschränken. Dies galt insbesondere für weibliche Rückkehrer und solche in den Städten. Rückkehrer, die dorthin gingen, wo sie familiäre Unterstützung erlangen konnten, waren hiervon weniger betroffen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37).

Kabul ist nicht die Stadt mit der größten Nahrungsmittelunsicherheit, allerdings ist die Stadt darauf angewiesen, einen Großteil ihrer Lebensmittel aus dem Umland einzuführen und Schwankungen dieses Versorgungsflusses können zur Verknappung einzelner Lebensmittel führen. Der afghanische Staat hat nicht die Möglichkeit, große Mengen Getreide einzulagern und hat es bisher auch nicht geschafft, vulnerable Haushalte durch Höchstpreisverordnungen oder ein Lebensmittelmarkensystem zu schützen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 37). Die Versorgungslage mit Lebensmitteln wird für Kabul als angespannt angesehen. Dies bedeutet, dass auch mit humanitärer Hilfe ein Fünftel der Haushalte zwar ausreichend Nahrungsmittel hatten, im Gegenzug allerdings nicht mehr genug Geld für die Befriedigung anderer Grundbedürfnisse (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132). Insgesamt hängt der Zugang zu Nahrungsmitteln von den finanziellen Möglichkeiten des Betroffenen ab (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132).

Der Zugang zu sauberem Wasser und zu Sanitäranlagen hat sich erheblich verbessert, wobei dieser in den Städten besser ist als auf dem Land. Trotz dieser Verbesserungen bleibt der Zugang zu Trinkwasser ein Problem in Afghanistan. Gerade in Kabul haben nur 32 % der Bevölkerung Zugang zu fließendem Wasser und nur 10 % der Einwohner haben Zugang zu fließendem Trinkwasser. Jene, die es sich leisten können, bohren ihre eigenen Brunnen. Viele arme Bewohner sind auf öffentliche Zapfstellen angewiesen, die oftmals weit von ihrer Unterkunft entfernt liegen. Darüber hinaus ist die Hälfte der Brunnen und Zapfstellen durch Abwässer verschmutzt, die in den Fluss Kabul eingeleitet werden. Etwa 50 % der Afghanen hat Zugang zu Sanitäranlagen (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).

Obwohl der Großteil der afghanischen Bevölkerung noch auf dem Land lebt, hat Afghanistan eine der weltweit höchsten jährlichen Stadtbevölkerungswachstumsraten. Schätzungen schwanken zwischen 3,4 und 4,4 % jährlich. Diese hohe Wachstumsrate beruht neben dem natürlichen Bevölkerungswachstum auch auf einer hohen Anzahl von Binnenflüchtlingen und Rückkehrern (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53). Der Großteil der afghanischen Stadtbevölkerung lebt in Slums, worunter 86 % der städtischen Häuser in Afghanistan zu fassen sind (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 132; EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 53). Etwa 70 % der Bevölkerung Kabuls lebt in illegalen Siedlungen, also Bereichen, in denen Gebäude auf Land errichtet wurden, welches den Bauherren nicht gehörte und/oder bei denen die Gebäude nicht den Bauvorschriften entsprechen. Diese illegalen Siedlungen bieten wichtige und preiswerte Unterkunft für den Großteil der Stadtbevölkerung. Die Bevölkerungsdichte ist dort bis zu doppelt so hoch wie in anderen Teilen der Stadt. Zwar haben diese illegalen Siedlungen dazu geführt, dass eine große Obdachlosenkrise ausblieb, das unkontrollierte Wachstum hat jedoch auch bestehende Probleme, wie das Fehlen der Kanalisation und die unzureichende Müllentsorgung, verschärft (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 56). Eine andere Unterbringungsalternative sind (bzw. waren bis zum Ausbruch der Pandemie) Teehäuser, die zwischen 30 und 100 Afghani pro Nacht kosten und als vorübergehende Unterkunft von Reisenden, Tagelöhnern, Straßenverkäufern, jungen Leuten, alleinstehenden Männern und anderen Personen ohne dauerhafte Unterkunft in der Gegend genutzt werden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 133).

Das afghanische Gesundheitssystem hat sich seit dem Jahr 2001 – bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie – erheblich verbessert. So ist unter anderem die Anzahl funktionierender Gesundheitseinrichtungen von 496 im Jahr 2002 auf über 2.800 im Jahr 2018 gestiegen. Trotz dieser Verbesserungen steht das afghanische Gesundheitssystem jedoch weiterhin vor Herausforderungen, wie der zerstörten Infrastruktur, fehlendem Fachpersonal, unterfinanzierten Einrichtungen, fehlender Sicherheit und tiefgreifender Armut. Im Jahr 2017 bestanden in 53 % der im Rahmen einer Studie untersuchten Gesundheitseinrichtungen strukturelle und Instandhaltungsprobleme und in 45 % der Einrichtungen wurden schlechte hygienische Bedingungen vorgefunden. Auch fehlte in 20 % der Einrichtungen ein Anschluss an das Stromversorgungsnetz. Darüber hinaus wird das Gesundheitssystem durch die inländischen Fluchtbewegungen und die vielen Rückkehrer zusätzlich belastet. Viele örtliche Einrichtungen sind nicht in der Lage, die zusätzliche Belastung zu stemmen und den zusätzlichen Hilfebedarf zu bewältigen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 25).

Der Großteil der afghanischen Bevölkerung hat – jedenfalls bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie – Zugang zu grundlegender medizinischer Versorgung, auch wenn es gerade in ländlichen Bereichen noch Versorgungslücken gibt. 93 % der Bevölkerung wohnt in einem Radius von zwei Stunden von einer öffentlichen Praxis, 82,4 % leben weniger als zwei Stunden von einem Bezirks- oder Provinzkrankenhaus entfernt und 94,8 % wohnten in einer Entfernung von weniger als zwei Stunden zu einer Apotheke. Nach den Angaben des afghanischen Gesundheitsministeriums wohnten 60 % der Bevölkerung weniger als eine Gehstunde entfernt von der nächsten Praxis (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 45). Nach der afghanischen Verfassung soll die medizinische Behandlung kostenlos sein. Dies ist jedoch selbst in vielen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen nicht der Fall. Auch dort müssen viele Patienten für Medikamente, Arzthonorare, Laboruntersuchungen und Krankenhausaufenthalte bezahlen. Die hierdurch entstehenden hohen Kosten sind der Grund dafür, dass viele Menschen nicht zum Arzt gehen oder nach einem Arztbesuch Schulden machen müssen. Die hohen Kosten gerade auch für Medikamente führen dazu, dass selbst Personen, die Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben, die dort verschriebenen Therapien nicht einhalten können, weil die Medikationskosten zu hoch sind (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 46 f.).

Die Behandlung in einem afghanischen Krankenhaus ist oftmals nur darstellbar, wenn der Patient durch Verwandte oder Bekannte mit Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln versorgt wird (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 23). Die afghanische Bevölkerung hegt ein großes Misstrauen gegen das staatliche finanzierte Gesundheitssystem. Die Qualität der Kliniken variiert stark und es gibt praktisch keine Qualitätskontrollen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30). Die „guten" Krankenhäuser in Kabul können die erhöhte Nachfrage nicht bedienen, sodass viele Afghanen auf private Kliniken ausweichen, in denen noch höhere Kosten anfallen, oder ins benachbarte Ausland fahren, um schwerwiegende Erkrankungen behandeln zu lassen (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 47). Gerade in Kabul ist der Zugang zur medizinischen Versorgung leichter als in anderen Städten. Dort gibt es 47 Gesundheitseinrichtungen. Eine spezielle Traumaversorgung wird zudem von der italienischen Nichtregierungsorganisation Emergency bereitgestellt. Die kostenfreie Behandlung psychischer Erkrankungen wird durch zwei öffentliche Gesundheitseinrichtungen gewährleistet, auch wenn für die Medikamente gegebenenfalls gesondert bezahlt werden muss und auch informelle Gebühren erhoben werden können. Daneben gibt es kostenpflichtige Angebote für die psychiatrische Behandlung durch privater Anbieter und Kliniken. Ebenfalls wird psychische Unterstützung durch eine ausländische Nichtregierungsorganisation bereitgestellt (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 5).

Der afghanische Arbeitsmarkt ist im Wesentlichen durch die Landwirtschaft dominiert und besteht darüber hinaus aus einem großen Anteil von Selbständigen oder Personen, die im Familienbetrieb arbeiten. Etwa 54% der afghanischen Bevölkerung befinden sich im arbeitsfähigen Alter. Aufgrund der vielen jungen Afghanen – 25 % sind zwischen 15 und 30 Jahren alt – streben Jahr für Jahr immer mehr Personen auf den Arbeitsmarkt, die Beschäftigungsmöglichkeiten können jedoch aufgrund unzureichender wirtschaftlicher Entwicklung und schlechter Sicherheitslage nicht mit dem Bevölkerungswachstum mithalten. Etwa 23,9 % der afghanischen Bevölkerung sind arbeitslos, was heißt, dass sie keine Arbeit haben oder suchen oder weniger als acht Stunden pro Woche arbeiten. Gerade bei den Personen unter 25 und über 50 Jahren ist die Arbeitslosigkeit besonders hoch. So beträgt die Jugendarbeitslosigkeit 31 %. Die Arbeitslosenquote unterliegt auch saisonalen Schwankungen und liegt im Frühjahr und Sommer bei etwa 20%, während sie im Winter auf bis zu 32,5 % ansteigen kann (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 27). Etwa 80% der Arbeitsstellen sind als unsicher zu qualifizieren und werden als selbständige Tätigkeit, Tagelöhner oder unbezahlte Arbeit ausgeübt. Weder Bildung noch Arbeit sind zudem eine Garantie gegen Armut (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28).

Die Stadt Kabul ist der Dreh- und Angelpunkt für Handel und Arbeit in Afghanistan. Sie besitzt eine wirtschaftlich aktive Bevölkerung, die in Berufen im Bereich des Handels, der Dienstleistungen und der Grundversorgung tätig ist. In der Stadt gibt es eine große Zahl von Festanstellungen, während Selbständigkeit weniger häufig ist, als in den ländlichen Bereichen. Insgesamt sind auch die Löhne in Kabul höher als in anderen Landesteilen, insbesondere für Personen, die für ausländische Organisationen arbeiten (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 28).

Für Rückkehrer aus dem Ausland ist das Finden einer Verdienstmöglichkeit eine große Herausforderung. Die Rückkehrer stellen neben den Binnenflüchtlingen eine zusätzliche Arbeitsmarktkonkurrenz für die einheimische Bevölkerung dar. Dies kann zu Konflikten zwischen diesen Gruppen führen. In den Jahren 2016 und 2017 waren ungelernte Hilfstätigkeiten die Haupteinkommensquelle für Rückkehrer und im Jahr 2017 beschrieben mehr als 24 % der Rückkehrer das Finden einer Verdienstmöglichkeit als überwältigende Herausforderung (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 29 f.). Eine besondere Rolle beim Finden einer Verdienstmöglichkeit spielt das Bestehen eines sozialen Netzwerks. Dies kann zum einen die Großfamilie sein, jedoch auch Netzwerke aufgrund eines gemeinsamen Hintergrunds, gemeinsamer Arbeit oder gleichen Bildungsstands können eine Rolle spielen. So wird berichtet, dass Siedlungen in Kabul oftmals aus Personen bestehen, die einen gemeinsamen räumlichen oder ethnischen Hintergrund haben und die sich ausschließlich aufeinander verlassen, um Unterkunft und Verdienstmöglichkeiten zu finden (EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 134).

In Kabul können Rückkehrer grundsätzlich nur als Tagelöhner arbeiten und die meisten von ihnen können nicht jeden Tag eine Verdienstmöglichkeit finden, sodass ihr Einkommen unsicher ist. Die meisten offiziellen Rückkehrer erhalten etwas finanzielle Unterstützung vom UNHCR (EASO, Afghanistan, Key socio-economic indicators, Focus on Kabul, Mazar-e Sharif and Herat City, April 2019, S. 31). Unter anderem Deutschland arbeitet eng mit der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Afghanistan zusammen, insbesondere, um die Reintegration zu erleichtern. IOM bietet Unterstützung bei Reiseformalitäten, Ankunft in Kabul mit bis zu zweiwöchiger Unterbringung und Begleitung der Reintegration einschließlich der Unterstützung bei der Suche nach einer Beschäftigung oder der Gewährung eines Anstoßkredits (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand Juli 2019, S. 30).

b) Nach der ständigen Rechtsprechung hat sich bislang aus den Erkenntnismitteln zu Afghanistan grundsätzlich nicht ergeben, dass ein alleinstehender, arbeitsfähiger, männlicher Rückkehrer mit hoher Wahrscheinlichkeit alsbald nach seiner Rückkehr in eine derartige extreme Gefahrenlage geraten wird, die eine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich als unzumutbar erscheinen lässt.

Auch wenn die Versorgungslage in Afghanistan schlecht ist, ist im Wege einer Gesamtgefahrenschau nicht anzunehmen, dass bei einer Rückführung nach Afghanistan alsbald der sichere Tod drohen wird oder alsbald schwere Gesundheitsbeeinträchtigungen zu erwarten sind. Der Betroffene ist selbst ohne nennenswertes Vermögen und ohne familiären Rückhalt in der Lage, durch Gelegenheitsarbeiten wenigstens ein kleines Einkommen zu erzielen und sich damit zumindest ein Leben am Rand des Existenzminimums zu finanzieren (vgl. statt vieler: Bayerischer VGH, Urt. v. 06. Juli 2020 – 13a B 18.32817 –; OVG Bremen, Urt. v. 12. Februar 2020 – 1 LB 276/19, 1 LB 305/18 –; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 22. Januar 2020 – 13 A 11356/19.OVG –; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v 18. Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris; siehe auch Urt. d. Kammer v. 08. Januar 2020 – VG 3 K 41/17.A –, juris; EASO, Country Guidance: Afghanistan, Guidance note and common analysis, Juni 2019, S. 137). Nach der Einschätzung des EASO drohen zwar auch in diesen Städten harte Lebensumstände, jedoch können junge, gesunde und arbeitsfähige Männer, die nicht auch noch für andere Personen sorgen müssen und bei denen auch keine sonstigen gefahrerhöhenden Umstände vorliegen, ihre Grundbedürfnisse an Unterkunft, Kleidung und Hygiene in diesen Städten decken.

Liegt nach alledem nahe, dass in der Regel Rückkehrer aus Europa nicht unmittelbar in eine extreme Gefahrenlage geraten, kann im Einzelfall bei Personengruppen mit erhöhten Gefährdungspotential auch nach dem strengen Maßstab des Art. 3 EMRK eine Situation bestehen, bei der sich die humanitären Gründe gegen eine Abschiebung als zwingend erweisen. Dies kann insbesondere bei Familien und alleinstehenden Frauen der Fall sein. Aber auch bei jungen, alleinstehenden Männern können bestimmte Persönlichkeitsdefizite dazu führen, im Einzelfall eine extreme Gefahrenlage anzunehmen, so dass insbesondere bei Personen, die nie bzw. nur in Kindesjahren in Afghanistan gelebt haben, maßgeblich sein kann, in welchem Alter sie Afghanistan verlassen haben, welche Verbindungen noch zu und in Afghanistan bestehen, welche Sprachen sie sprechen, welche Bildung sie genossen haben und ob zu erwarten ist, dass sie sich schnell an die Gepflogenheiten anpassen können (vgl. allgemein zu den Kriterien bei sogenannten „faktischen Iranern“, im Ergebnis jeweils das Bestehen eines Abschiebungsverbots verneinend: VGH Hessen, Urt. v. 27. September 2019 – 7 A 1923/14.A –, juris, Rn. 187 ff.; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26. Juni 2019 – A 11 S 2108/18 –, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 18 Juni 2019 – 13 A 3930/18.A –, juris, Rn. 297 ff.; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 29. Januar 2019 – 9 LB 93/18 –, juris, Rn. 137 ff.).

c) Die vorstehenden Grundsätze bedürfen allerdings angesichts der Ausbreitung der Corona-Pandemie in Afghanistan einer Korrektur. Denn das das Finden von Unterkunft und Arbeit wird durch die Ausbreitung der Corona-Pandemie in Afghanistan nach Lage der Erkenntnismittel derzeit erschwert.

Am 16. September 2020 gab es in Afghanistan 38.855 bestätigte Fälle aus allen 34 Provinzen Afghanistans, von denen 32.503 als genesen gelten und 1.436 verstorben sind und insgesamt 107.593 Personen bei einer Bevölkerung von 37,6 Millionen getestet wurde (vgl. UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response, Operational Situation Report, 16. September 2020, S. 1). Am meisten betroffen sind – gemessen an den bestätigten Fällen – die Provinzen Kabul, Herat, Kandahar und Balkh (Stand 24. September 2020, vgl. BAMF Briefing Notes v. 28. September 2020). Aufgrund der begrenzten Ressourcen des öffentlichen Gesundheitswesens und der begrenzten Testkapazität sowie des Fehlens eines nationalen Sterberegisters werden bestätigte Fälle und Todesfälle wahrscheinlich insgesamt zu wenig gemeldet (vgl. UNOCHA, Afghanistan Flash Update: Daily Brief: Covid-19, No. 41, S. 1; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020).

Der afghanische Staat hat deswegen weitgehende Beschränkungen beschlossen. So gibt es landesweit „angemessene Ausgangsbeschränkungen“, die zur Schließung von Teilen von Städten bzw. Bewegungsbeschränkungen geführt haben. Obwohl Mitarbeiter von Hilfsorganisationen die Erlaubnis haben, ihren Aufgaben weiter nachzugehen, berichteten Nichtregierungsorganisationen von regelmäßigen Verzögerungen und Erschwernissen. Mittlerweile sind die Beschränkungen des inländischen Verkehrs zwar gelockert worden (TOLOnews, Kabul Residents, Heeding Health Advice, Stay Home for Eid, 25. Mai 2020), eine vollständige Aufhebung ist indes noch nicht geplant und bekannt. Die landesweiten Sperrmaßnahmen bleiben weiterhin in Kraft (vgl. jüngst: UNOCHA, Afghanistan, Strategic Situation Report: COVID 19, No. 73, 3. September 2020; BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020;).

Auf dem Arbeitsmarkt haben sich die veränderten Umstände in einer höheren Arbeitslosigkeit niederschlagen. Das Arbeitsministerium berichtet von zwei Millionen Menschen, die aufgrund der Covid-19-Pandemie arbeitslos geworden sind (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020, S. 2). Dies betrifft vor allem den Tagelöhnermarkt, die meisten Tagelöhner blieben arbeitslos (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020). Das Wirtschaftsministerium warnte zuvor, dass die Arbeitslosigkeit in Afghanistan um 40 % und die Armut um 70 % aufgrund des Covid-19-Virus steigen werde (TOLOnews, Union: 2 Million Afghans Lose Jobs Amid Covid-19, 01. Mai 2020). Die Kaufkraft gewöhnlicher Arbeit ist wegen gestiegener Preise und gesunkener Löhne um 14 bis 21 % gesunken (UNOCHA, Afghanistan, Brief COVID-19, No. 38, 23. April 2020, S. 2). Hinzu kommt, dass in Iran über 3,3 Millionen Menschen ihre Arbeitsstellen verloren haben, darunter eine hohe Zahl von Tagelöhnern, von denen wiederum sehr viele Afghanen sind. Für Afghanistan bedeutet dies, dass Überweisungen der Arbeitsmigranten ausfallen, welche für viele Familien die Lebensgrundlage bilden (BAMF, Briefing Notes vom 27. April 2020, S. 2). Gleichzeitig kehrten vom 01. Januar bis 26. September 2020 etwa 576.801 Menschen aus dem Iran und Pakistan nach Afghanistan zurück (UNHCR, Afghanistan, Border Monitoring Update, COVID-19 Response, 20 – 26 September 2020, S. 1). Während sich die Zahl der Iranrückkehrer in der Woche vom 20. April 2020 auf üblichem Niveau bewegte, war die Prozentzahl derer, die eine gewisse humanitäre Ankunftshilfe benötigen, von sonst üblichen 20 auf 100 Prozent gestiegen (UNOCHA, Afghanistan Flash Update: Daily Brief: COVID-19, No. 41, 3. Mai 2020, S. 3). Für 2020 geht die Weltbank von einer Rezession (bis zu -8% BIP) aus (vgl. Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 16. Juli 2020, S. 22), SIGAR erwartet bis zu 10 Prozent (SIGAR. Quartlery Report to the United States Congress, 30. Juli 2020, S. 39). Es wird erwartet, dass die Armutsquote von 55 auf 68 Prozent steigen wird (vgl. BAMF, Briefing Notes v. 24. August 2020).

Rückkehrer aus dem Ausland stehen bei der Arbeitssuche vor einer zusätzlichen besonderen Herausforderung, weil diese als vermeintlich Verantwortliche für die Gefahr durch das Corona-Virus stigmatisiert werden (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 2). Dabei können sie nicht im bisherigen Umfang von Rückkehrprogrammen profitieren. Die Maßnahmen zur Eindämmung des Virus („Lockdown“) behindern entgegen anderslautender Versicherungen der Regierung teilweise die Arbeit der Mitarbeiter der UN und von Nichtregierungsorganisationen (UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 20. Mai 2020, S. 1). Die Nichtregierungsorganisation ACE, bei der Rückkehrer Unterstützungshilfen nach ERIN beantragen müssen, ist seit 28. März 2020 geschlossen (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener. 27. März 2020, S. 3).

Hinzu kommt, dass auch die Kosten der Lebenshaltung gestiegen sind. Das UN-Welternährungsprogramm WFP stellte in seinem jüngsten Bericht einen Preisanstieg von etwa 20 Prozent für Mehl und Speiseöl in Afghanistan fest. Auch andere Grundnahrungsmittel wie Reis und Zucker sind teurer geworden (UNOCHA, Afghanistan: COVID-19 Multi-Sectoral Response Operational Situation Report, 20. Mai 2020, S. 1). Ebenso problematisch stellt sich die Versorgung mit Wasser dar. Kabul sieht sich aufgrund von Regen- und Schneemangel, einer boomenden Bevölkerung und verschwenderischen Wasserverbrauch mit Wasserknappheit konfrontiert (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020).

Rückkehrer stehen angesichts der völlig unzureichenden Versorgungslage zudem vor der Problematik, eine Unterkunft zu finden. Im Hinblick auf die in Großstädten, vor allem Kabul als etwaigen Rückkehrort, überwiegend beengten Unterbringungsverhältnissen und des vorgegebenen „social distancing“, bestehen kaum Möglichkeiten, Obdach zu finden. Der Verweis auf eine Unterbringung in sogenannten Teehäusern erscheint auf absehbare Zeit kaum mehr möglich, denn es wird davon berichtet, dass diese sukzessive geschlossen wurden (Stahlmann, Risiken der Verbreitung von SARS-CoV-2 und schweren Erkrankungen an Covid-19 in Afghanistan, besondere Lage Abgeschobener, 27. März 2020, S. 3). Auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl berichtet am 21. Juli 2020, dass die meisten Hotels, Teehäuser und ähnlichen Orte geschlossen seien, es sei denn, sie würden geheim und unbemerkt von staatlichen Stellen geöffnet (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21. Juli 2020, S. 3).

Auf Grundlage der Erwartung des afghanischen Gesundheitsministeriums, dass die größte Welle der Infektionen mit dem Corona-Virus noch bevorsteht, führt all dies zu der Einschätzung, dass es zu einem extremen Versorgungsengpass kommen wird, der vor allem die Ärmsten, insbesondere Tagelöhner stark treffen wird (vgl. Tagesschau, Mit dem Virus droht der Hunger, 03. Mai 2020). Neben den Versorgungsengpässen ist zudem zu befürchten, dass eine „Gesundheitskatastrophe“ bevorsteht (TOLOnews, Afghanistan Likely Facing COVID-19 ‚Health Disaster‘: SIGAR, 01. Mai 2020; SIGAR, Quarterly Report to the United States Congress, 30. April 2020, S. 4). Auch Beamte in der Provinz Herat sagten, dass der Strom afghanischer Flüchtlinge, die aus dem Iran zurückkehren, und die Nachlässigkeit der Menschen, die Gesundheitsrichtlinien zu befolgen, die Möglichkeit einer neuen Welle des Virus erhöht hätten, und dass diese in einigen Gebieten bereits begonnen habe (BFA, Kurzinformation der Staatendokumentation, COVID-19 Afghanistan; Stand: 21 Juli 2020). Es wird erwartet, dass sich die bereits prekäre Lage weiter verschlechtert und dass 2020 bis zu 14 Millionen Menschen (2019: 6,3 Mio. Menschen) auf humanitäre Hilfe (u.a. Unterkunft, Nahrung, sauberes Trinkwasser und medizinische Versorgung) angewiesen sein werden (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: Juni 2020, S. 23).

Das sich aus diesen unterschiedlichen (größtenteils online verfügbaren, vgl. etwa Corona-Tracker des VGH Baden-Württemberg) Quellen ergebende Lagebild in der Stadt Kabul als End- bzw. Ankunftsort einer Abschiebung sowie in Afghanistan insgesamt, stellt sich zur Überzeugung des Gerichts so dar, dass bei aus dem westlichen Ausland zurückkehrenden Personen die hohen Anforderungen des Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG, Art. 3 EMRK im Einzelfall für vulnerable Personen und Familien erfüllt sein können. Es bedarf dann in tatsächlicher Hinsicht im Einzelfall der besonders gründlichen Feststellung, dass diese Personen über namhaftes einsetzbares Vermögen verfügen, in ein soziales oder familiäres Netzwerk zurückkehren, sich in existenzsichernder Weise am Arbeitsmarkt werden durchsetzen können oder sich auf andere Weise am Rande des Existenzminimums werden „über Wasser halten" können. Lässt sich diese Feststellung nicht treffen, liegt die Annahme einer Verletzung von Art. 3 EMRK durch eine Abschiebung jedenfalls in tatsächlicher Hinsicht nahe (vgl. so auch: VG Freiburg, Urt. v. 08. September 2020 – A 8 K 10988/17 –, UA, S. 28 f.; VG Hannover Urt. v. 09. Juli 2020 – 19 A 11909/17 –, juris, Rn. 44 ff.; Urt. d. Kammer v. 03. September 2020 – VG 3 K 1599/16.A –, juris; vgl. zum Meinungsstand in der Rechtsprechung: VG Hamburg, Urt. v. 07. August 2020 – 1 A 3562/17 –, juris, Rn. 47 ff.). Dabei ist das Gericht davon überzeugt, dass die aufgrund des Auftretens von Covid-19-Fällen veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, insbesondere für Rückkehrer aus dem westlichen Ausland, andauern werden. Selbst im Falle der vollständigen Aufhebung von Ausgangs- und Bewegungsbeschränkungen ist aufgrund der weitgehend ausgezehrten wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Landes nicht damit zu rechnen, dass sich die Situation in Kabul alsbald nach Aufhebung von Beschränkungen wesentlich verbessern wird. Wann und in welchem Umfang sich eine Besserung einstellen wird, ist vielmehr nicht absehbar.

d) Dies zugrunde gelegt, gelangt das Gericht in dem hier zu entscheidenden Einzelfall zu der Überzeugung, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Afghanistan eine extreme Gefahrenlage droht, die zu einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung um Sinne von Art. 3 EMRK führt.

Bei dem Kläger handelt es sich zwar um einen jungen Mann im erwerbsfähigen Alter. Er ist jedoch vorliegend nicht als alleinstehend zu betrachten. Besteht eine familiäre Beistandsgemeinschaft, zählt der Umstand, dass der betreffende Asylbewerber Unterhaltsverpflichtungen gegenüber Familienangehörigen (im Ausland) unterliegt, bei der Prognose, ob eine tatsächliche Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 5 AufenhG besteht, zu den Gesichtspunkten, die bei der Gesamtwürdigung aller Umstände des Falls zu berücksichtigen sind (vgl. dies „ohne Zweifel“ annehmend: VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 07. Mai 2020 – A 11 S 2277/19 –, juris, Rn. 11; dies annehmend, sofern die räumliche Trennung nicht auf einem autonomen Entschluss der Familienmitglieder beruht, sondern „fluchtbedingt“ ist: VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16. Oktober 2017 – A 11 S 512/17 –, juris, Rn. 301; a.A. VG Augsburg, Urt. v. 12. März 2018 – Au 5 K 17.31752 –, juris, Rn. 40, wonach es allein darauf ankommt, ob der Kläger in der Bundesrepublik als Einzelperson lebt; ebenso: VG Augsburg, Urt. v. 21. August 2018 – Au 5 K 17.32123 –, juris, Rn. 34; VG Leipzig, Urt. v. 23. März 2018 – 1 K 1148/16.A –, juris, Rn. 43, wonach auf die Familie nicht abzustellen ist, sofern keine Trennung des Familienverbands infolge einer Abschiebung aus Deutschland nach Afghanistan droht). Das Bestehen solcher Unterhaltsverpflichtungen entbindet mit Blick auf § 60 Abs. 5 AufenthG und Art. 3 EMRK nicht vom Erfordernis, die Gefahrenprognose unter Würdigung aller Umstände des konkreten Falles vorzunehmen. Dabei spielen der tatsächliche Unterhaltsbedarf der Familienangehörigen, das Vorhandensein von Vermögen, die bisherige Form der Bedarfsdeckung sowie die Bereitschaft Dritter (insbesondere naher Familienangehöriger), erforderlichenfalls zur Bedarfsdeckung beizutragen, eine wichtige Rolle (vgl. jüngst: VGH Baden-Württemberg, Beschl. vom 07. Mai 2020, a.a.O., Rn. 12).

Dabei ist der Umstand, dass der Kläger in solchen Fällen bereits seit Jahren von seiner Familie getrennt lebt, unbeachtlich, sofern trotz der Distanz eine familiäre Beistandsgemeinschaft besteht. Denn im Rahmen von § 60 Abs. 5 AufenthG ist eine zwar notwendig hypothetische, aber doch realitätsnahe Rückkehrsituation zugrunde zu legen (BVerwG, Urt. v. 04. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, juris, Rn. 16, m.w.N.). Diese gebietet, dass auch Unterhaltslasten für im Herkunftsland bzw. einem Nachbarland aufhältige Angehörige der Kernfamilie zu berücksichtigen sind. Die Einbeziehung von Familienangehörigen in die Rückkehrprognose hat gerade nicht den Zweck, die Prüfung eines inlandsbezogenen Abschiebungshindernisses vorzuziehen. Hinsichtlich der Berücksichtigung von Angehörigen einer gelebten Kernfamilie, die über einen – wie auch immer gearteten – Schutzstatus in der Bundesrepublik verfügen, führt das Bundesverwaltungsgericht aus (Urt. v. 04. Juli 2019 – 1 C 45/18 –, juris, Rn. 27):

„Es ist bei bestehender familiärer Gemeinschaft im Regelfall davon auszugehen, dass sich der einzelne Rückkehrer nicht nur in der verfassungsrechtlich gestützten Rechtspflicht zur Unterhaltsgewähr und Versorgung, sondern auch in einer entsprechenden sittlich-moralischen Pflicht sieht. Bei der Rückkehr im Familienverband, bei der lediglich ein Familienmitglied sein eigenes Existenzminimum (notdürftig) sichern könnte, nicht aber das seiner Angehörigen, steht dieses vor der Alternative, entweder unter Verletzung seiner Familienobliegenheiten zunächst vollständig seine eigene Existenz (hinreichend) zu sichern und dafür auch die tatsächliche Existenzgefährdung oder eine konventionswidrige Situation der von ihm abhängigen Angehörigen in Kauf zu nehmen oder unter dem Eindruck der in ihrer Existenz gefährdeten Familienmitglieder auf die hinreichende Sicherung der eigenen Existenz durch ‚Teilen‘ mit Familienangehörigen auch dann zu verzichten, wenn dies zu einer konkret drohenden Verletzung von Leib, Leben oder der Freiheit der eigenen Person führt. Entscheidet er sich für Letzteres, handelt es sich nicht um eine ‚freiwillige Selbstgefährdung‘, die eine ‚außergewöhnliche Notlage‘ im Sinne des Art. 3 EMRK ausschließt. Art. 6 GG/Art. 8 EMRK schützen jedenfalls normativ die – für die Rückkehrprognose naheliegende – Entscheidung eines Elternteils, auf die Erfüllung grundlegender familiärer Solidarpflichten auch dann nicht zugunsten der eigenen Existenzsicherung zu verzichten, wenn damit das eigene Existenzminimum unterschritten und für die eigene Person eine mit Art. 3 EMRK unvereinbare Lage herbeigeführt wird. Die Unterschreitung auch des eigenen Existenzminimums, die in der Familiensituation aus der existenziellen Notlage für jedes einzelne Familienmitglied folgt, ist dann auch nicht eine bloß mittelbare Gefährdungssteigerung aus den ‚Versorgungslasten‘ für nahe Familienangehörige; sie bewirkt auch nicht, dass lediglich das Schutzbedürfnis eines nahen Familienangehörigen zu einer eigenen Rechtsposition des Ausländers führt (…).“

Für das Gericht ist nicht ersichtlich, aus welchen Gründen eine solche Zwangssituation, der sich der Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan mit hoher Wahrscheinlichkeit ausgesetzt sähe, im Falle des Aufenthalts seiner Familienangehörige in einem anderen Land, anders zu bewerten sein sollte. Denn für das Bestehen einer familiären Lebensgemeinschaft ist das Zusammenleben in einer häuslichen Gemeinschaft nicht zwingende Voraussetzung. Im Falle einer dauerhaften räumlichen Trennung bedarf es indes zusätzlicher Anhaltspunkte, um das Fehlen eines gemeinsamen Lebensmittelpunktes weitgehend auszugleichen. Es kommt vor allem auf die persönliche und emotionale Verbundenheit der Familie an, insbesondere darf ihr „Füreinander-Dasein“ durch die räumliche Trennung nicht in einer solch nachhaltigen Weise aufgegeben werden, dass nicht mehr von einer Beistandsgemeinschaft gesprochen werden kann (vgl. in Abgrenzung zur reinen Begegnungsgemeinschaft im Rahmen der Versagung einer Aufenthaltserlaubnis: BVerwG, Urt. v. 27. Januar 1998 – 1 C 28/96 –, juris, Rn. 33). Die vom Bundesverwaltungsgericht vorstehend als erheblich betrachtete Entscheidung, entweder auf die Erfüllung grundlegend familiärer Solidarpflichten oder aber auf die eigene Existenzsicherung zu verzichten, trifft ein Elternteil bzw. Ehepartner ebenso, wenn keine häusliche Gemeinschaft gelebt wird, sofern eine Beistandsgemeinschaft besteht.

Vorliegend ist davon auszugehen, dass der Kläger weiter für seine Familienangehörigen in Pakistan einsteht, insbesondere für seine Ehefrau und seine beiden Töchter. In der mündlichen Verhandlung hat er glaubhaft berichtet, seine beiden Töchter und seine Ehefrau seien ebenfalls aus Afghanistan geflohen und lebten seit einigen Jahren in Pakistan. Ebenso glaubhaft waren die Schilderungen des Klägers, dass er für diese finanziell aufkommt und mit diesen regelmäßigen Kontakt hat. Mithin ist – als ein Umstand im Rahmen der Gesamtabwägung bei der Rückkehrprognose – erheblich, dass der Kläger diesen Unterhaltslasten nachkommt.

Da der Kläger in Afghanistan – nach seinen glaubhaften Angaben – nicht über aufnahmebereite Verwandte verfügt, ist seine Aufnahme- und Unterbringungssituation völlig ungeklärt. Könnte man bei einem alleinstehenden Mann in seinem Alter gegebenenfalls noch davon ausgehen, dass er in der Lage wäre, sich über Wasser zu halten, gilt das hier angesichts der Unterhaltslasten des Klägers vorliegend nicht. Es stellt sich zudem für den Kläger als überaus nachteilig dar, dass er nicht über besondere Qualifikationen verfügt, mit denen er sich am afghanischen Arbeitsmarkt von den anderen Männern abheben kann. Seine berufspraktische Erfahrung auf dem afghanischen Arbeitsmarkt beschränkt sich auf Aushilfstätigkeiten auf einer Baustelle und die Tätigkeit als Wachmann. In der Bundesrepublik arbeitet er seit kurzem als Reinigungskraft, so dass er auch seit seiner Ausreise keine weiteren Bildungsfortschritte oder Arbeitserfahrungen erzielt hat. Schließlich hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass es dem Kläger aufgrund seiner schlechten psychischen Verfassung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit nicht gelingen wird, sein Leben in Afghanistan derart zu organisieren und sich durchzusetzen, dass er den Unterhalt einer vierköpfigen Familie bestreiten könnte. Auch wenn der Kläger keine den höchstrichterlichen Anforderungen an die Glaubhaftmachung psychischer Erkrankungen genügende ärztliche Atteste über seine psychische Erkrankung vorgelegt haben dürfte (vgl. zu diesem Aspekt: VG Berlin, Urteil vom 17. Dezember 2019 – VG 17 K 216.17 -, n.v.), entstand beim Gericht aufgrund der vorgelegten fachpsychologischen Stellungnahme und aufgrund des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung der Eindruck, dass seine psychische Belastbarkeit erheblich eingeschränkt ist.

Wie es dem Kläger vor dem Hintergrund der ohnehin angespannten Wohnungs- und Arbeitsmarktlage unter Berücksichtigung der vorgenannten Umstände und insbesondere angesichts der Auswirkungen durch Corona gelingen soll, völlig auf sich alleingestellt, zeitnah Obdach und Arbeit zu finden und nicht nur seinen nötigsten Lebensunterhalt, sondern auch den seiner Ehefrau und seiner Kinder zu bestreiten, vermag das Gericht nicht zu erkennen.

d) Da der Kläger aus diesem Grund einen Anspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG hat, bedarf es keiner Entscheidung mehr über das Vorliegen der Voraussetzungen von § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Denn die nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG bilden einen einheitlichen, nicht weiter teilbaren Streitgegenstand mit mehreren Anspruchsgrundlagen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13. Juli 2017 – BVerwG 1 VR 3.17 –, juris, Rn. 71 f.).

e) Der Klage war mithin hinsichtlich der Feststellung eines Abschiebungsverbots stattzugeben. Ziffer 4 des streitgegenständlichen Bescheides war insoweit aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, festzustellen, dass für den Kläger die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG für Afghanistan vorliegen. In Folge des zugesprochenen Abschiebungsverbots war auch die Abschiebungsandrohung in Ziffer 5 des Bescheids vom 18. August 2016 aufzuheben. Auch das in Ziffer 6 des Bescheids verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot war aufzuheben, da dieses nach Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots auf der Grundlage nach § 60 Abs. 5 AufenthG entfällt.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 S. 1, Abs. 2, 159 S. 2 VwGO. Die getroffene Kostenentscheidung trägt dabei dem unterschiedlichen Gewicht des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten sowie der teilweise erfolgten Klagerücknahme Rechnung. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Vollstreckbarkeitsentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung.