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Zurückbehaltung; Honorar; Sicherungszweck; Regress; Praxisgebühr; Einbehaltung der Zuzahlung; Nichteinzugsquote; Rettungsstellen; Krankenhaus; akute Behandlungsbedürftigkeit; Notfallbehandlung; Ermessen; Ermessensfehler


Metadaten

Gericht LSG Berlin-Brandenburg 7. Senat Entscheidungsdatum 17.11.2010
Aktenzeichen L 7 KA 57/09 ECLI
Dokumententyp Urteil Verfahrensgang -
Normen § 18 Abs 7a BMV-Ä, § 21 Abs 7a EKV-Ä, § 28 Abs 4 SGB 5, § 43b SGB 5, § 35 Abs 1 S 3 SGB 10

Leitsatz

Der Zweck des Zurückbehaltungsrechts nach § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV liegt ausschließlich in der Sicherung eines Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen gegenüber dem als Einzugsstelle fungierenden Vertragsarzt (bzw. hier: Krankenhausträger). Diesen Sicherungszweck muss die von einer Kassenärztlichen Vereinigung zu treffende Ermessensentscheidung über die Zurückbehaltung von Honorar berücksichtigen.

Tenor

Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2008 aufgehoben; die Bescheide der Beklagten über die Zurückbehaltung von Honorar für die Quartale I bis III/2005 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 24. Mai 2006 sowie des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2006 werden aufgehoben; die Beklagte wird verurteilt, an die Klägerin 92.570,00 Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu einem Achtel und die Beklagte zu sieben Achteln.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

Die Klägerin betreibt als Krankenhauskonzern in Berlin u. a. das Klinikum N, das in einer Rettungsstelle Erste-Hilfe-Leistungen erbringt. Die Beteiligten streiten um die Zurückbehaltung von Honorar in Höhe von ursprünglich 106.520,- Euro und nun noch 92.570,- Euro für die Quartale I bis III/2005 wegen der Nichteinbehaltung der Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 Sozialgesetzbuch / Fünftes Buch (SGB V, „Praxisgebühr“).

Mit undatierten Bescheiden für die Quartale I/2005 bis III/2005, die der Klägerin mit Schreiben vom 13. Oktober 2005, 24. Januar 2006 und 22. März 2006 zugegangen sind, modifiziert durch einen Teilabhilfebescheid vom 24. Mai 2006, hielt die Beklagte Honorar in Höhe von insgesamt 106.520,- Euro für nicht erhobene Zuzahlungen zurück; im Einzelnen:

Quartal

Zahlungspflichtige
Patienten
(Gesamtfallzahl)

nicht ein-
behaltene
Zuzahlung
(Fallzahl)

Nichteinzugsquote

Zurückbehaltenes
Honorar

I/2005

6.206 

3.638 

58,62 %

36.380,- Euro

II/2005

6.181 

3.558 

57,56 %

35.580,- Euro

III/2005

6.334 

3.456 

54,56%

34.560,- Euro

Mit ihren hiergegen jeweils erhobenen Widersprüchen machte die Klägerin geltend, das Inkassorisiko für den Erhalt der Praxisgebühr dürfe nicht den Erste-Hilfe-Stellen der Krankenhäuser aufgebürdet werden. Eine schuldhafte Pflichtverletzung liege nicht vor, auf das Erheben der Praxisgebühr sei nicht verzichtet worden. Die nachträgliche Aufforderung zur Zahlung gegenüber den Patienten sei nicht zu beanstanden. Bei der Behandlung ihrer Patienten in den Erste-Hilfe-Stellen handele es sich stets um Notfälle, in denen immer eine akute Behandlungsbedürftigkeit gegeben sei. Die Besonderheiten der Notfallbehandlung ließen eine Einziehung der Zuzahlung vor der Behandlung im Regelfall nicht zu. In diesen Fällen werde den Patienten nach erfolgter Behandlung eine schriftliche Zahlungsaufforderung ausgehändigt. Dann bestehe die Möglichkeit, den Betrag sogleich bar oder per Kartenzahlung an der Kasse zu entrichten oder innerhalb von zehn Tagen zu überweisen.

Die Widersprüche wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2006 zurück. Zur Begründung führte sie aus: Auch Krankenhäuser seien verpflichtet, vor jeder ersten ambulanten Inanspruchnahme im Kalendervierteljahr eine Zuzahlung in Höhe von 10,- Euro zu erheben, sofern sie mit Erste-Hilfe-Stellen an der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung teilnähmen. Jeder Leistungserbringer unterliege einer gesetzlichen Verpflichtung zum Zahlungseinzug. Die entsprechenden Regelungen im Gesetz und in den Bundesmantelverträgen seien auch auf ambulante Notfallbehandlungen im Krankenhaus anwendbar. Die Nichteinzugsquote liege im Falle der Klägerin durchweg bei über 50 Prozent. Auf der Grundlage von § 18 Abs. 7a Bundesmantelvertrag – Ärzte (BMV-Ä) bzw. § 21 Abs. 7a Bundesmantelvertrag – Ärzte/Ersatzkassen (EKV) könne die Differenz zwischen einzubehaltender und tatsächlich einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten werden, wenn ein Leistungserbringer – wie die Klägerin – in einem Quartal in 10 von 100 oder einem höheren Anteil der nach § 28 Abs. 4 SGB V zuzahlungspflichtigen Behandlungsfälle die Zuzahlung nicht erhoben habe. Das Ermessen sei bei der Entscheidung über die Zurückbehaltung von Honorar beanstandungsfrei ausgeübt worden. Die Klägerin habe ihre bundesmantelvertraglichen Pflichten zum Zahlungseinzug schuldhaft verletzt, was auch durch die hohe Nichteinzugsquote belegt werde. Sie habe nämlich nicht nachgewiesen, dass sie die Zuzahlung grundsätzlich vor der Inanspruchnahme der ambulanten Leistung erhebe. Die von der Klägerin beschriebene Verfahrensweise genüge den Anforderungen nicht. Auch bei Notfallbehandlungen sei die Zuzahlung grundsätzlich vor Behandlungsbeginn zu erheben, zumal aufgrund der verhältnismäßig schwachen Arzt-Patient-Bindung ein erhöhtes Inkassorisiko bestehe. Anderes gelte nur bei akuter Behandlungsbedürftigkeit, wenn der Gesundheitszustand des Patienten eine vorherige Erhebung der Zuzahlung nicht zulasse; in diesen Fällen komme es aber ohnehin oftmals zur stationären Aufnahme. Dass eine vorherige Erhebung der Zuzahlung bei Patienten der Erste-Hilfe-Stellen aus gesundheitlichen Gründen durchweg ausgeschlossen sei, sei nicht erkennbar.

Ihre dagegen erhobenen Klage, gerichtet auf Auszahlung des zurückbehaltenen Honorars in Höhe von insgesamt 106.520,- Euro, hat die Klägerin im Wesentlichen wie folgt begründet: § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV seien hier nicht anwendbar. Die von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und den Spitzenverbänden der Krankenkassen geschlossenen Bundesmantelverträge entfalteten weitere Regelungswirkung nur für die Vertragsärzte, die Kassenärztlichen Vereinigungen und die Versicherten, nicht aber gegenüber den eine ambulante Notfallversorgung anbietenden Krankenhäusern. Dort erbrachte ambulante Notfallleistungen seien nicht Bestandteil der vertragsärztlichen Versorgung. Zudem sei fraglich, ob die Regelungen in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV überhaupt eine hinreichende gesetzliche Ermächtigung besäßen; § 43b Abs. 2 SGB V erlaube keine Regelung eines Zurückbehaltungsrechts. Eine Verpflichtung zur Einziehung der Zuzahlung bei den Patienten auch aus Anlass ambulanter Notfallbehandlung könne sich danach nur aus der „Rahmenempfehlung Praxisgebühr“ ergeben. Diese gestatte eine nachträgliche Erhebung der Zuzahlung bei akuter Behandlungsbedürftigkeit ausdrücklich. Die Besonderheit der Notfallbehandlung in den Erste-Hilfe-Stellen lasse eine Einziehung der Zuzahlung vor Behandlungsbeginn nicht zu, so dass den Patienten jeweils nach der Behandlung eine schriftliche Zahlungsaufforderung überreicht werde. Es handele sich stets um Notfälle, in denen immer eine akute Behandlungsbedürftigkeit mit der Notwendigkeit unverzüglichen Einschreitens gegeben sei. Ob die Untersuchung dann gegebenenfalls ergebe, dass tatsächlich keine akute Behandlungsbedürftigkeit bestehe, sei rechtlich unerheblich. Die Verzögerung einer Behandlung wegen vorheriger Einziehung der Zuzahlung könne sogar strafrechtliche Relevanz entfalten. Notfallpatienten könnten auch deshalb nicht vorab an die Zahlstellen verwiesen werden, da diese sich nicht immer in räumlicher Nähe zur Rettungsstelle befänden und auch nicht durchgängig geöffnet seien. Gleichwohl werde die Klägerin den organisatorischen und tatsächlichen Anforderungen an die Erhebung der Zuzahlung in jeder Hinsicht gerecht. Ihre Verpflichtung zur Einziehung der Zuzahlung habe die Klägerin danach nicht schuldhaft verletzt. Allein die Höhe der Nichteinzugsquote, die die Beklagte im Übrigen fehlerhaft berechnet habe, lasse keinen Rückschluss auf etwaiges Verschulden zu.

Mit Urteil vom 3. Dezember 2008 hat das Sozialgericht Berlin die Klage abgewiesen und ausgeführt: § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV seien auf die Klägerin anwendbar, soweit es um den Betrieb ambulanter Erste-Hilfe-Stationen gehe. Daher unterliege auch die Klägerin der Verpflichtung, vom Patienten die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V einzuziehen; die Zurückbehaltung eines Teils der Vergütung müsse sie hinnehmen. Der Gesetzgeber habe die Vertragspartner der Bundesmantelverträge ausdrücklich ermächtigt, das Verfahren des Einzugs der Zuzahlung auch mit Wirkung für nicht vertragsärztlich zugelassene, aber zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung tätige Leistungserbringer zu regeln. Ihr Zurückbehaltungsrecht habe die Beklagte auch angesichts der vorliegend sehr hohen Nichteinzugsquote rechtmäßig ausgeübt. Ob die Klägerin ihre Pflicht zum Einzug der Zuzahlung schuldhaft verletzt habe, sei in diesem Zusammenhang unerheblich und ausschließlich in dem parallel geführten Schlichtungsverfahren zu klären.

Gegen das ihr am 3. März 2009 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 3. April 2009 Berufung eingelegt.

Im Berufungsverfahren hat die Klägerin erklärt, ihre Honorarforderung reduziere sich um zwischenzeitlich geleistete Zahlungen von Versicherten und Erstattungen der Beklagten aufgrund von Rechenfehlern. Ihre Honorarforderung betrage nunmehr noch 92.570,- Euro, nämlich 36.380,- Euro für das Quartal I/2005, 23.820,- Euro für das Quartal II/2005 sowie 32.370,- Euro für das Quartal III/2005.

Zur Begründung ihrer Berufung vertieft die Klägerin ihr bisheriges Vorbringen und bringt ergänzend vor: Ihr Ermessen habe die Beklagte bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts auch deshalb fehlerhaft ausgeübt, weil Krankenhausträger stets liquide seien und daher kein Sicherungsbedürfnis bestehe. Das Risiko von nicht beizutreibenden Zuzahlungen dürfe zudem nicht von den Krankenkassen auf die Leistungserbringer verlagert werden; die dauerhafte Zurückbehaltung von Honorar sei gleichbedeutend mit einer Honorarkürzung. Im Übrigen hätten § 18 Abs. 7a BMV-Ä und § 21 Abs. 7a EKV nur vom 1. Januar 2005 bis zum 31. Dezember 2006 gegolten, so dass die fortlaufende Ausübung des Zurückbehaltungsrechts ab dem Jahr 2007 schon aus diesem Grunde rechtswidrig sei. Bereits die Verlängerung der Befristung bis zum 30. Juni 2007 sei nicht hinreichend bekannt gemacht. Die am 30. August 2010 vereinbarte rückwirkende Aufhebung der Befristung gehe ins Leere, weil sie an den 30. Juni 2007 statt an den 1. Juli 2007 hätte anknüpfen müssen. Unabhängig davon entfalte die Rückdatierung der Vereinbarung vom 30. August 2010 echte Rückwirkung und sei damit verfassungswidrig. Angesichts des eingetretenen Gewöhnungseffekts in Bezug auf die Praxisgebühr bei Ärzten und Patienten sei die Regelung zum Zurückbehaltungsrecht mit der ihr innewohnenden Disziplinierungswirkung auch nicht mehr erforderlich.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 3. Dezember 2008 aufzuheben, die Bescheide der Beklagten über die Zurückbehaltung von Honorar für die Quartale I/2005, II/2005 und III/2005 in der Fassung des Teilabhilfebescheides vom 24. Mai 2006 sowie des Widerspruchsbescheides vom 13. Juni 2006 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr 92.570,- Euro nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Die Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Sie hält die erstinstanzliche Entscheidung für zutreffend und bringt ergänzend vor: Ein Leistungserbringer, der seine Verpflichtung zum Einzug der Zuzahlung nicht erfülle, dürfe sich nicht hinter dem Inkassorisiko der Krankenkassen verstecken. Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts diene der Sicherung des auch nach dem Ausgang des Schlichtungsverfahrens unzweifelhaft bestehenden Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen. Der Zahlungsanspruch der Klägerin sei gegebenenfalls zu hoch beziffert, da sie selbst behaupte, ein Teil der ursprünglichen Nichtzahler habe die Zuzahlung später noch entrichtet. Die ursprünglich bestehende Befristung von § 18 Abs. 7a BMV-Ä und § 21 Abs. 7a EKV sei inzwischen von den Partnern der Bundesmantelverträge aufgehoben worden. Das Zurückbehaltungsrecht sei damit rechtmäßig ausgeübt worden. Auf das Vorliegen einer schuldhaften Pflichtverletzung seitens der Klägerin komme es hier nicht an; diese sei allein in dem Klageverfahren zu thematisieren, das einen Schadensersatzanspruch auf Grund eines Schlichtungsverfahrens zum Gegenstand habe.

Der Senat hat vom Sozialgericht Berlin die Streitsache S 79 KA 18/09 nebst Beiakte beigezogen. Daraus ergibt sich: Mit Bescheiden vom 13. Mai 2008 hat die Beklagte „aufgrund des Vorschlages der Schlichtungsstelle gemäß § 49 Abs. 1 BMV-Ä bzw. § 45 Abs. 1 EKV“ festgestellt, „dass die zur V N für Gesundheit GmbH gehörenden Krankenhäuser ihre vertragsärztlichen Pflichten dadurch verletzt haben, dass sie in dem Zeitraum der Quartale I/2005 bis II/2007 die Zuzahlung gemäß § 28 Abs. 4 SGB V nicht ordnungsgemäß eingezogen haben und dadurch den Krankenkassen ein Schaden entstanden ist.“ Der den einzelnen Krankenkassen entstandene Schaden sei zu erstatten. Das sich aus der hohen Nichtzahlerquote von zwischen 50 und 75 Prozent ergebende Indiz für eine schuldhafte Pflichtverletzung habe die Klägerin nicht entkräftet. Die Widersprüche der Klägerin hat die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008 zurückgewiesen. Die Höhe des Schadensersatzanspruchs der Primärkassen hat die Beklagte darin auf 1.106.120,- Euro beziffert, den der Ersatzkassen auf 618.600,- Euro. Über die dagegen erhobene Klage (S 79 KA 18/09) ist noch nicht entschieden.

Wegen des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird im Übrigen auf den Inhalt der Gerichtsakten und der Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie der Akte zum Verfahren S 79 KA 18/09 nebst Beiakte Bezug genommen, der, soweit wesentlich, Gegenstand der Erörterung in der mündlichen Verhandlung und der Entscheidungsfindung war.

Entscheidungsgründe

Die Berufung der Klägerin ist zulässig und begründet. Zu Unrecht hat das Sozialgericht die Klage abgewiesen. Die angefochtenen Bescheide sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat für die Quartale I bis III/2005 Anspruch auf Auszahlung zurückbehaltenen Honorars in Höhe von 92.570,- Euro nebst Zinsen.

1. Rechtsgrundlage für die von der Beklagten vorgenommene Zurückbehaltung von Honorar ist § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV.

Die im Wesentlichen gleich formulierten Vorschriften lauten:

1Ergibt sich aus der Abrechnung, dass ein Leistungserbringer in einem Quartal in 10 von Hundert oder einem höheren Anteil der Behandlungsfälle, in denen die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V zu erheben ist, die Zuzahlung nicht erhoben hat, kann die Kassenärztliche Vereinigung die Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung zurückbehalten. 2In den Fällen, in denen die Kassenärztliche Vereinigung von dem Zurückbehaltungsrecht nach Satz 1 Gebrauch macht, informiert die Kassenärztliche Vereinigung die betroffenen Landesverbände der Krankenkassen (EKV: Landesvertretungen der Ersatzkassenverbände). 3Gleichzeitig leitet die Kassenärztliche Vereinigung in Abstimmung mit der zuständigen Krankenkasse (EKV: Ersatzkasse) ein Verfahren nach § 49 (EKV: § 45) ein.

2. Diese Rechtsgrundlage findet eine hinreichende Ermächtigung im Gesetz (unten a) und entfaltet auch umfassend Gültigkeit (unten b). Ihr Tatbestand ist erfüllt (unten c), doch ihr Ermessen bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hat die Beklagte zur Überzeugung des Senats fehlerhaft ausgeübt (unten d).

a) Ihre Ermächtigung hat die zitierte bundesmantelvertragliche Regelung in § 43b Abs. 2 Sätze 4 und 8 SGB V.

aa) Diese Norm steht in folgendem Zusammenhang: Mit dem Gesetzzur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14. November 2003 (GKV-Modernisierungsgesetz – GMG, BGBl. I S. 2190) wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2004 für die Versicherten der gesetzlichen Krankenversicherung eine Pflicht zur Zuzahlung in Höhe von 10 Euro pro Quartal („Praxisgebühr“) eingeführt (vgl. zur Verfassungsmäßigkeit der Regelung: Bundessozialgericht, Urteil vom 25. Juni 209, B 3 KR 3/08 R, zitiert nach juris, Leitsatz). § 28 Abs. 4 Satz 1 SGB V i.d.F. des GMG lautet:

Versicherte, die das 18. Lebensjahr vollendet haben, leisten je Kalendervierteljahr für jede erste Inanspruchnahme eines an der ambulanten ärztlichen, zahnärztlichen oder psychotherapeutischen Versorgung teilnehmenden Leistungserbringers, die nicht auf Überweisung aus demselben Kalendervierteljahr erfolgt, als Zuzahlung den sich nach § 61 Satz 2 ergebenden Betrag an den Leistungserbringer.

Den Zahlungsweg für diese Zuzahlung regelt § 43 b Abs. 1 und 2 SGB V. Die Vorschrift lautete i.d.F. des GMG:

(1) 1Leistungserbringer haben Zahlungen, die Versicherte zu entrichten haben, einzuziehen und mit ihrem Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse zu verrechnen. 2Zahlt der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht, hat die Krankenkasse die Zahlung einzuziehen.

(2) 1Zuzahlungen, die Versicherte nach § 28 Abs. 4 zu entrichten haben, hat der Leistungserbringer einzubehalten; sein Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung verringert sich entsprechend. 2Die nach § 83 zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der von den mit der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung abrechnenden Leistungserbringern nach Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen. 3Absatz 1 Satz 2 gilt nicht im Falle der Leistungserbringung und Abrechnung im Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§ 82 und 83. 4Das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1 und 2 ist in den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren.

Mit Wirkung vom 1. Januar 2007 (Vertragsarztrechtsänderungsgesetz vom 22. Dezember 2006, BGBl. I S. 3439) wurde die Vorschrift ergänzt um die Sätze 4 bis 8; der bisherige Satz 4 wurde Satz 8, 2. Halbsatz. § 43 b Abs. 2 SGB V lautet nunmehr:

(2) 1Zuzahlungen, die Versicherte nach § 28 Abs. 4 zu entrichten haben, hat der Leistungserbringer einzubehalten; sein Vergütungsanspruch gegenüber der Krankenkasse, der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung verringert sich entsprechend. 2Die nach § 83 zu entrichtenden Vergütungen verringern sich in Höhe der Summe der von den mit der Kassenärztlichen oder Kassenzahnärztlichen Vereinigung abrechnenden Leistungserbringern nach Satz 1 einbehaltenen Zuzahlungen. 3Absatz 1 Satz 2 gilt nicht im Falle der Leistungserbringung und Abrechnung im Rahmen von Gesamtverträgen nach den §§ 82 und 83. 4In den Fällen des Satzes 3 haben die Kassenärztliche oder Kassenzahnärztliche Vereinigung im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung zu übernehmen, wenn der Versicherte trotz einer gesonderten schriftlichen Aufforderung durch den Leistungserbringer nicht zahlt. 5Sie können hierzu Verwaltungsakte gegenüber den Versicherten erlassen. 6Klagen gegen Verwaltungsakte nach Satz 5 haben keine aufschiebende Wirkung. 7Ein Vorverfahren findet nicht statt. 8In den Bundesmantelverträgen kann ein von Satz 4 abweichendes Verfahren vereinbart werden; das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis 7 ist in den Bundesmantelverträgen zu vereinbaren.

bb) Die Krankenkasse ist nach diesem Regelungssystem Gläubigerin des Anspruchs auf Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V. Der Vertragsarzt fungiert lediglich als Einzugs- bzw. Inkassostelle. Daraus folgt, dass nur die „einbehaltenen“ Zuzahlungen, also tatsächliche Zahlungen der Versicherten, nicht aber schon die „einzubehaltenden“ Zuzahlungen den Vergütungsanspruch der Vertragsärzte gegenüber der jeweiligen Kassen(zahn)ärztlichen Vereinigung verringern. Zahlt ein Versicherter die Praxisgebühr anlässlich einer ärztlichen Behandlung nicht, hat der Vertragsarzt ihn lediglich schriftlich zur Nachzahlung aufzufordern. Bleibt diese Mahnung erfolglos, hat die Kassen(zahn)ärztliche Vereinigung im Auftrag der Krankenkasse die Einziehung der Zuzahlung zu übernehmen, soweit in den Bundesmantelverträgen nichts Abweichendes bestimmt ist. Der Vertragsarzt hat hiernach also nur eine Inkassofunktion auszuüben, ist aber nicht selbst Gläubiger der Praxisgebühr. Die Stellung der Krankenkassen als Gläubiger der Praxisgebühr lässt sich zusätzlich aus § 28 Abs. 4 Satz 3 SGB V ableiten, wonach im Falle der Wahl von Kostenerstattung statt der Sach- oder Dienstleistung (§ 13 Abs. 2 SGB V) die Zuzahlung von der Krankenkasse gemäß § 13 Abs. 2 Satz 9 SGB V unmittelbar in Abzug zu bringen ist, sich die von ihr an den Versicherten zu erstattende Arztvergütung also um einen der Praxisgebühr entsprechenden Betrag verringert (vgl. Bundessozialgericht, a.a.O., Rdnr. 16 f.).

cc) § 43b Abs. 2 Satz 8 SGB V ist mit der Formulierung „das Nähere zum Verfahren nach den Sätzen 1, 2 und 4 bis 7“ eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichende Ermächtigung für die bundesmantelvertragliche Regelung des hier streitigen Zurückbehaltungsrechts. § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV beinhalten nämlich eine Verfahrensregelung im Hinblick auf die Einbehaltung der Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V durch die Leistungserbringer sowie die Folgen schuldhafter Nichteinbehaltung.

Geregelt sind die Pflicht zur Einbehaltung der Zuzahlung und deren Folge in § 43 b Abs. 2 Satz 1 und 2 SGB V. Der Leistungserbringer ist zur Einbehaltung verpflichtet. Sein Vergütungsanspruch verringert sich in Höhe des einbehaltenen Betrages. Gleichzeitig verringert sich die Gesamtvergütung in Höhe der Summe der einbehaltenen Zuzahlungen.

Materiellrechtlich knüpft sich an die schuldhafte Nichteinbehaltung der Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V gegebenenfalls eine Schadensersatzpflicht des Leistungserbringers gegenüber den Krankenkassen nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV. Das in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV normierte Zurückbehaltungsrecht der Kassenärztlichen Vereinigung in Höhe der Differenz zwischen einbehaltener und einzubehaltender Zuzahlung dient nur der Sicherung dieses Schadensersatzanspruchs und hat keinen eigenen Sanktionscharakter. Die enge Verknüpfung zwischen vorläufiger Zurückbehaltung und Schadensregress belegt Satz 3 in § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV, wonach bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zwingend das Schlichtungsverfahren mit dem Ziel des Schadensregresses nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV einzuleiten ist. Dementsprechend ist der Streit um die vorläufige Zurückbehaltung (vertragsärztlichen) Honorars nur ein vorgelagerter Streit um ein Sicherungsrecht, dem das Verfahren folgt, in dem die Schadensersatzpflicht materiell festgestellt wird; letzteres ist hier ebenfalls betrieben worden (Bescheide vom 13. Mai 2008, Widerspruchsbescheid vom 16. Dezember 2008, Klage S 79 KA 18/09).

b) § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV bieten auch eine taugliche Rechtsgrundlage für die Zurückbehaltung von Honorar im Umfange nicht einbehaltener Zuzahlungen. Ihr zwischenzeitliches Außer-Kraft-Treten führt nicht zur Rechtswidrigkeit der Zurückbehaltung. Ursprünglich waren die Vorschriften bis zum 31. Dezember 2006 befristet (Einführung von § 18 Abs. 7a BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a EKV mit Wirkung vom 1. Januar 2005 bis 31. Dezember 2006 durch am 29. Juni 2005 vereinbarte Änderung der Bundesmantelverträge). Die Vertragsparteien vereinbarten zunächst eine Verlängerung der Befristung bis zum 30. Juni 2007 (Deutsches Ärzteblatt vom 8. Januar 2007, Seite A 73); die Bekanntmachung im Deutschen Ärzteblatt ist nach Art und Formulierung nicht zu beanstanden. Am 30. August 2010 hoben sie die Befristung vollständig mit Wirkung vom 1. Juli 2007 auf (Deutsches Ärzteblatt vom 24. September 2010, Seite A 1828). Die von der Klägerin formulierten Bedenken gegen die Statthaftigkeit der rückwirkenden Entfristung der fraglichen Regelungen greifen aus mehreren Gründen nicht. Die Inkraftsetzung zum 1. Juli 2007 ist zutreffend; am 30. Juni 2007 um Mitternacht lief die Befristung aus, am 1. Juli 2007 um 0.00 Uhr war sie aufgehoben – regelungstechnisch ist dies einwandfrei. Weiter sind die hier streitigen Widerspruchsbescheide am 13. Juni 2006 bzw. 26. September 2006 ergangen und damit noch während des ursprünglich vorgesehenen Geltungszeitraums. Weil es für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts, eines belastenden Verfahrensakts, auf den Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung hierzu ankommt, durften die streitigen Beträge grundsätzlich zurückbehalten werden. Selbst wenn die Beklagte später zeitweise zu einer weiteren Zurückbehaltung nicht berechtigt gewesen sein sollte, war sie hierzu jedenfalls nach dem seit 30. August 2010 geltenden mantelvertraglichen Recht wieder befugt. Die Klägerin kann aber – sinngemäß – nicht fordern, was sie in einem nächsten Schritt gleich wieder herausgeben müsste.

c) Der Tatbestand aus § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV ist erfüllt. Die Klägerin ist Leistungserbringerin im Sinne der Vorschrift. Zwar nimmt das von der Klägerin betriebene Krankenhaus grundsätzlich nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teil. Zur ärztlichen Behandlung im Rahmen der vertragsärztlichen Versorgung gehören aber auch die in Notfällen ambulant ausgeführten ärztlichen Leistungen durch nicht an der vertragsärztlichen Versorgung teilnehmende Ärzte (§ 2 Abs. 2 Nr. 4 BMV-Ä/EKV; vgl. auch Bundessozialgericht, Urteil vom 16. April 1986, 6 RKa 34/84, zitiert nach juris, dort Rdnr. 11 ff.; Urteil vom 24. September 2003, B 6 KA 51/02 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 13 ff.). Es handelt sich um einen „rechtlich wenig fassbaren Fall der beschränkten Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung durch Krankenhäuser und Nichtvertragsärzte“, ohne dass diese in die Kassenärztliche Vereinigung einbezogen werden (Wenner, Das Vertragsarztrecht nach der Gesundheitsreform, 2008, § 14 Rdnr. 12). In diesem Fall gelten nicht nur die die betroffenen Leistungserbringer begünstigenden Regelungen über die vertragsärztliche Vergütung, sondern auch die sonstigen, für die Leistungserbringer gegebenenfalls mit Nachteilen verbundenen Regelungen der vertragsärztlichen Versorgung. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Leistungserbringer die entsprechenden vertragsärztlichen Regelungen kennen müssen. Bei einem Krankenhausträger, dessen Einrichtungen regelmäßig und in erheblichem Umfang am Notfalldienst teilnehmen, kann davon ausgegangen werden, dass die einschlägigen Bestimmungen bekannt und daher anwendbar sind (vgl. Bundessozialgericht, Urteil vom 16. April 1986, a.a.O., Rdnr. 14).

Zu beanstanden ist daher weder die Berechtigung der Kassenärztlichen Vereinigung, von der Vergütung von Krankenhäusern für ambulante Notfallbehandlungen einen Anteil für Verwaltungskosten abzuziehen (hierzu Bundessozialgericht, Urteil vom 24. September 2003, B 6 KA 51/02 R), noch die Verpflichtung der diese Notfallbehandlung vornehmenden Krankenhäuser, die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V zu erheben.

In den drei ersten Quartalen des Jahres 2005 hat die Klägerin in der Rettungsstelle des Klinikums Neukölln die Zuzahlung nach § 28 Abs. 4 SGB V in Quoten zwischen 54,56 Prozent und 58,62 Prozent nicht erhoben. Die nun noch streitige Summe von 92.570,- Euro entspricht 9.257 Nichtzahlern in den genannten Quartalen.

d) Die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts nach § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV steht im Ermessen der Beklagten. Die rechtliche Kontrolle der Ermessensentscheidung muss im Wesentlichen die Begründung von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid in den Blick nehmen (unten aa). Die Ermessensentscheidung in Zusammenhang mit der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts muss bestimmten allgemeinen Standards genügen (unten bb). Diesen werden die angefochtenen Bescheide zur Überzeugung des Senats nicht gerecht (unten cc).

aa) Für die vom Senat durchzuführende Kontrolle der angefochtenen Bescheide auf Ermessensfehler ist entscheidend auf die konkrete Begründung von Ausgangs- und Widerspruchsbescheid abzustellen, denn hier manifestieren sich die Gründe, die die Behörde bei Ausübung des Ermessens erwogen hat (vgl. § 35 Abs. 1 Satz 3 SGB X: „Die Begründung von Ermessensentscheidungen muss auch die Gesichtspunkte erkennen lassen, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist“); gleichzeitig ergibt eine Analyse der Begründung der Bescheide gegebenenfalls, welche Umstände die Behörde außer Betracht gelassen hat, obwohl sie sie hätte erwägen müssen.

Ein „freies“ Nachschieben oder Ergänzen von Ermessenserwägungen nach Erlass des Widerspruchsbescheides bis hin zum Ende der letzten mündlichen Tatsachenverhandlung ist grundsätzlich nicht statthaft. Hierfür sprechen rechtsstaatliche Erwägungen: Es muss aus dem Bescheid erkennbar sein, dass der Vortrag des Betroffenen und die Umstände seines Einzelfalles zur Kenntnis genommen, sachlich geprüft und beschieden worden sind. Der Betroffene hat Anspruch auf eine nachvollziehbare Bescheidung, damit er sich über die Notwendigkeit und Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels schlüssig werden, d.h. eine Rechtsverletzung überhaupt erkennen und zur Rechtsverteidigung ein Rechtsschutzbegehren sinnvoll erwägen kann. Außerdem kommt dem Begründungszwang die Funktion zu, im Rahmen des Verwaltungs- bzw. Widerspruchsverfahrens Selbstkontrolle durchzuführen und mit der Begründung verwaltungsintern Rechenschaft darüber abzulegen, dass die Interessen des Betroffenen wahrgenommen worden sind.

Eine Vorschrift, die wie § 114 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) das Nachschieben von Gründen auch bei Ermessensentscheidungen für zulässig erklärt, fehlt zudem im Sozialgerichtsgesetz (SGG). Unstatthaft und im Prozess nicht zu berücksichtigen ist damit jedenfalls das Nachschieben von bei Erlass des Verwaltungsaktes nicht erwogenen Gründen. Eine Ermessensentscheidung darf nicht aus Gründen aufrecht erhalten werden, die sie in Wahrheit gar nicht tragen und die möglicherweise bei Erlass der Entscheidung nicht einmal bekannt waren (vgl. Keller in Meyer-Ladewig u.a., SGG, 9. Aufl. 2008, Rdnr. 36 zu § 54; Castendiek in Lüdtke, SGG Handkommentar, 3. Aufl. 2009, Rdnrn. 60 und 103 zu § 54; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, Rdnr. 11 zu § 41; Schütze in von Wulffen, SGB X, 7. Aufl. 2010, Rdnr. 11 zu § 41; Bundessozialgericht, Urteil vom 24. April 2002, B 7/1 A 4/00 R, zitiert nach juris, dort Rdnr. 54; Urteil vom 12. Dezember 1990, 9a/9 RV 27/89, zitiert nach juris, dort Rdnr. 12; Urteil vom 30. Januar 1990, 11 RAr 47/88, zitiert nach juris, dort Rdnr. 28). Ein Nachschieben von Ermessenserwägungen in Gestalt der Konkretisierung und Vertiefung der Begründung ist allenfalls dann zulässig, wenn die nachträglich vorgebrachten Gründe schon bei Erlass des streitigen Verwaltungsaktes vorlagen, dieser durch sie nicht in seinem Wesen verändert und der Betroffene nicht in seiner Rechtsverteidigung beeinträchtigt wird (vgl. Castendiek, a.a.O., Rdnr. 103).

Nichts anderes ergibt sich aus § 41 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. Abs. 2 SGB X. Danach kann „die erforderliche Begründung nachträglich gegeben“ werden, und zwar auch bis zur letzten Tatsachenverhandlung eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens. Damit ist nämlich nur die Heilung einer die formelle Rechtswidrigkeit herbeiführenden gänzlich fehlenden Begründung gemeint, nicht aber die Nachbesserung einer zur materiellen Rechtswidrigkeit führenden unzulänglichen Begründung (vgl. Schütze, a.a.O., Rdnr. 12).

bb) Das der Beklagten in § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV eingeräumte Ermessen umfasst nur das Entschließungsermessen und nicht ein Ermessen in Bezug auf die Höhe des zurückbehaltenen Honorars, denn zurückzubehalten ist ausdrücklich „die Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung“.

Eine beanstandungsfreie Entscheidung zur Zurückbehaltung muss zunächst erkennen lassen, dass überhaupt Ermessen ausgeübt worden ist. Es darf nicht der Anschein entstehen, dass die Zurückbehaltung gleichsam im Wege des Automatismus verfügt wird, wenn eine relevante Differenz zwischen einzubehaltender und einbehaltener Zuzahlung vorliegt. Sollte die Begründung von Bescheid und Widerspruchsbescheid den Eindruck eines solchen Automatismus entstehen lassen und der Empfänger meinen müssen, die Behörde habe sich bei Ausübung des Zurückbehaltungsrechts strikt gebunden gefühlt, wäre die Entscheidung schon wegen Ermessensausfalls rechtswidrig.

Weiter muss die Entscheidung zur Zurückbehaltung dem Zweck der Ermächtigung entsprechen und die gesetzlichen Grenzen des Ermessens einhalten. Wie bereits ausgeführt, liegt der Zweck des Zurückbehaltungsrechts nach § 18 Abs. 7a Satz 1 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 7a Satz 1 EKV ausschließlich in der Sicherung eines Schadensersatzanspruchs der Krankenkassen gegenüber dem als Einzugsstelle fungierenden Vertragsarzt (bzw. hier: Krankenhausträger). In Bezug auf diesen Schadensersatzanspruch, der eine schuldhafte Pflichtverletzung in Zusammenhang mit der Nichteinziehung der Zuzahlung fordert, ist zwingend das endgültige Klärung herbeiführende Verfahren nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV einzuleiten. Weil letzteres unter Umständen Jahre bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung beanspruchen kann, bietet der zeitnahe Weg der Zurückbehaltung der mutmaßlichen Schadenssumme durch eine vorläufige Kürzung des Honoraranspruchs Schutz gegen die Insolvenz des betroffenen Leistungserbringers. Eine Strafabsicht darf mit der Zurückbehaltung nicht verfolgt werden. Notwendig ist die Sicherung einer Schadensersatzforderung nur dann, wenn fraglich erscheint, ob sie in Zukunft realisiert werden kann. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des potentiellen Schuldners ist hierbei in den Blick zu nehmen. Je fraglicher die zukünftige Leistungsfähigkeit eines Leistungserbringers erscheint, umso eher ist die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts angezeigt (anders und genau umgekehrt, aber nicht plausibel: Sozialgericht Berlin, Urteil vom 13. Mai 2009, S 83 KA 343/06, zitiert nach juris, dort Leitsatz 4 und Rdnr. 25).

Daneben hat die Ermessensentscheidung zu prognostizieren, wie erfolgreich das Regressverfahren nach § 49 BMV-Ä bzw. § 45 EKV voraussichtlich sein wird. Nur wenn eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten in Zusammenhang mit der Nichteinbehaltung der Zuzahlung wahrscheinlich ist, ist die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts zulässig, denn sie nimmt die Folge des Schadensregresses zeitweise vorweg. Umgekehrt ist die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts umso weniger mit dem Zweck der Ermächtigung vereinbar, je unsicherer eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten erscheint. In diesem Zusammenhang obliegt der Beklagten auch schon bei der Ausübung des Zurückbehaltungsrechts eine sorgfältige Aufklärung des Sachverhalts; dem Leistungserbringer ist die Möglichkeit einzuräumen, gegebenenfalls sachliche Gründe für eine hohe Nichtzahlerquote anzuführen.

cc) Hieran gemessen sind die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Die Beklagte hat ihr Ermessen nicht fehlerfrei ausgeübt.

Die undatierten Ausgangsbescheide leiden evident schon unter Ermessensausfall, weil die hohe jeweils angeführte Nichteinzugsquote „blind“ zur Zurückbehaltung von Honorar in entsprechender Höhe geführt hat. Der Klägerin wurde nicht mehr mitgeteilt als die Nichteinzugsquote, die Anzahl der Nichtzahler und die Höhe des zurückbehaltenen Betrages. Ohne Zweifel genügt dies den normativen Vorgaben nicht und ist rechtswidrig.

Der Widerspruchsbescheid vom 13. Juni 2006 ergibt zunächst ein anderes Bild. Er gibt die in den Widersprüchen angeführten Einwendungen der Klägerin wieder und würdigen auch die Antwort der Klägerin auf die der Sachaufklärung dienende Anfrage der Beklagten vom 2. März 2006. Erkennbar wird zumindest das Bemühen um die Begründung einer Ermessensentscheidung.

Zu beanstanden ist aber, dass auch der Widerspruchsbescheid keine Erwägungen zum Sicherungszweck der Zurückbehaltung von Honorar enthält und sich nicht zur Notwendigkeit der Einbehaltung einlässt, gemessen etwa an der Höhe der zu erwartenden Schadensersatzforderung und der Insolvenzgefahr auf Seiten der Klägerin. Im Falle der Klägerin hätte der Sicherungszweck ganz besonders der Erwägung bedurft, weil es sich bei ihr um Deutschlands größten kommunalen Krankenhauskonzern handelt mit (im Jahre 2009) rund 5.200 Betten, rund 201.000 stationären und 286.000 ambulanten Fällen, rund 13.000 Mitarbeitern, einem Umsatz von etwa 785 Mio. Euro und einem Jahresergebnis von 2,6 Mio. Euro. Im Jahre 2005 lagen die Zahlen nicht sehr viel anders. Sie mussten der Beklagten bekannt sein. Diese Zahlen sowie der Umstand, dass von einem Insolvenzrisiko bei der Klägerin zu keiner Zeit die Rede war und ist, sprechen schon gegen die Angemessenheit der Zurückbehaltung des Honorars in den streitigen Quartalen. Das Mittel steht außer Relation zum Zweck. Selbst wenn nämlich eine schuldhafte Verletzung vertragsärztlicher Pflichten auf Seiten der Klägerin wahrscheinlich sein sollte, wäre eine rechtskräftig festgestellte Schadensersatzverpflichtung auch in Höhe der hier streitigen Beträge ohne Weiteres erfüllbar. Die Lösung durfte hier für die Beklagte nur im Betreiben des Regressverfahrens liegen. Über die Ausübung des Zurückbehaltungsrechts hat sie das Inkassorisiko vorübergehend unzulässiger Weise auf die Klägerin verlagert.

Entscheidend ist ein Weiteres: Die dem Widerspruchsbescheid zu entnehmende Prognose hinsichtlich der Erfolgsaussichten des Regressverfahrens unterliegt einem Abwägungsmangel. Die Besonderheit von Erste-Hilfe- bzw. Rettungsstellen in einem Krankenhaus wurde nämlich nicht hinreichend erwogen; diese unterscheiden sich maßgeblich von einer herkömmlichen vertragsärztlichen Praxis. In den Widerspruchsbescheiden heißt es insoweit, gerade in Erste-Hilfe- bzw. Rettungsstellen bestehe ein erhöhtes Inkassorisiko für den Einzug der Praxisgebühr, weshalb ihre Erhebung vor Behandlungsbeginn „unumgänglich“ sei. Diese Rigidität wird der Vorgabe in den Mantelverträgen (§ 18 Abs. 3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 3 EKV) nicht gerecht, wonach die Zuzahlung bei akuter Behandlungsbedürftigkeit auch nach der Inanspruchnahme erhoben werden kann. In diesem Fall zieht der Leistungserbringer den Betrag nachträglich ein und quittiert die geleisteten Zahlungen. Der Versicherte ist verpflichtet, die Zuzahlung unverzüglich, spätestens innerhalb von 10 Tagen zu entrichten (§ 18 Abs. 4 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 4 EKV). Sofern der Versicherte gleichwohl nicht leistet, übernimmt die Kassenärztliche Vereinigung den weiteren Zahlungseinzug (§ 18 Abs. 5 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 5 EKV, § 43 b Abs. 2 Satz 4, 5 SGB V).

Die Beklagte verkennt insoweit, dass bei Versicherten, die Erste-Hilfe- und Rettungsstellen in Krankenhäusern aufsuchen, dem ersten Anschein nach zumeist „akute Behandlungsbedürftigkeit“ in diesem Sinne bestehen dürfte. Ob sie tatsächlich besteht, wird oftmals erst klar sein, nachdem die ärztliche Untersuchung mit Anamnese und Befunderhebung überhaupt stattgefunden hat. Deshalb spricht einiges für die Plausibilität der Ausführungen der Klägerin im Widerspruchsverfahren, wonach die Besonderheiten der Notfallbehandlung eine Einziehung der Praxisgebühr vor der Behandlung im Regelfall nicht zuließen. Dem ist die Beklagte nur kategorisch mit der Behauptung entgegen getreten, dass es auch bei Erste-Hilfe- und Rettungsstellen beim Prinzip des vorherigen Einzuges der Zuzahlung bleiben müsse. Ein Denkfehler ist in der Annahme enthalten, „eine nachträgliche Erhebung der Praxisgebühr (könne) nur in Fällen akuter Behandlungsbedürftigkeit erfolgen, wobei dies jedoch eine Entscheidung im Einzelfall anhand des Gesundheitszustandes des Patienten vor (Hervorhebung hier) Behandlungsbeginn erfordert“. Diese Sichtweise würde eine Einschätzung der akuten Behandlungsbedürftigkeit durch das Pflege- oder Verwaltungspersonal schon vor dem ersten Arzt-Patienten-Kontakt voraussetzen; tatsächlich aber ist es der ärztlichen Untersuchung vorbehalten, (akute) Behandlungsbedürftigkeit festzustellen.

Unvermittelt und ohne weitere Begründung wird im Widerspruchsbescheid sodann die Nichteinzugsquote als entscheidendes Indiz für eine schuldhafte Nichteinziehung der Zuzahlung angeführt. Eine solche „Indizwirkung“ wäre nur dann tragfähiges Argument, wenn die Beklagte die tatsächlichen Nichteinzugsquoten der Klägerin zu denen vergleichbarer Rettungsstellen ins Verhältnis gesetzt und plausibel gemacht hätte, dass und warum die Klägerin den Begriff der akuten Behandlungsbedürftigkeit in § 18 Abs. 3 BMV-Ä bzw. § 21 Abs. 3 EKV fehlinterpretiert.

Nach alledem hält der Senat die Ausführungen der Beklagten im Widerspruchsbescheid für zu vage, um eine erfolgreiche Inregressnahme der Klägerin zugunsten der Krankenkassen mit dem notwendigen Wahrscheinlichkeitsgrad prognostizieren zu können. Mit den Einwendungen der Klägerin hat die Beklagte sich nicht hinreichend auseinandergesetzt. Die Notwendigkeit des Einzuges der Zuzahlung vor Behandlungsbeginn wurde nur schematisch auf die Erste-Hilfe- und Rettungsstellen von Krankenhäusern übertragen, ohne deren Besonderheiten zu ermitteln oder zu würdigen.

3. Erweist sich die Zurückbehaltung des Honorars in den ersten drei Quartalen des Jahres 2005 danach als rechtswidrig, hat die Klägerin Anspruch auf Auszahlung zu wenig geleisteten Honorars in Höhe von 92.570,- Euro.

4. Der Anspruch auf Prozesszinsen in Höhe von fünf Prozent über dem Basiszinsatz seit Rechtshängigkeit ergibt sich aus einer entsprechenden Anwendung von §§ 288 Abs. 1, 291 BGB.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 197 a SGG i.V.m. §§ 154 Abs. 1 und 155 Abs. 2 VwGO. Da die Klägerin ihre Forderung im Laufe des Berufungsverfahrens um 13,1 Prozent reduziert hat, hat der Senat die aus dem Tenor ersichtliche Quotelung der Kosten vorgenommen.

Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG).