Gericht | OVG Berlin-Brandenburg 3. Senat | Entscheidungsdatum | 04.09.2017 | |
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Aktenzeichen | OVG 3 M 32.17 | ECLI | ||
Dokumententyp | Beschluss | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 75 S 3 VwGO, Art 5 Abs 4 EGRL 86/2003 |
Die Beschwerde der Kläger gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Berlin vom 1. März 2017 wird zurückgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Beschwerdeverfahrens. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
Die Beschwerde der Antragsteller gegen die erstinstanzliche Versagung von Prozesskostenhilfe hat keinen Erfolg. Die Annahme des Verwaltungsgerichts, die beabsichtigte Klage biete keine hinreichende Aussicht auf Erfolg im Sinne des § 166 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 114 Abs. 1 ZPO, ist nicht zu beanstanden.
Zur Beurteilung der Erfolgsaussichten der beabsichtigten Klage ist grundsätzlich auf den Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfeantrags abzustellen, die in der Regel gegeben ist, wenn der Prozessgegner Gelegenheit zur Äußerung (§ 118 Abs. 1 ZPO) hatte und die Verwaltungsvorgänge vorliegen. Hier hat die zukünftige Beklagte über die Visaanträge der Antragsteller noch nicht entscheiden können, weil sie nur bei einer persönlichen Vorsprache der Antragsteller die erforderlichen Erkenntnisse insbesondere über deren Identität gewinnen kann (vgl. insoweit § 5 Abs. 1 Nr. 1a, § 49 Abs. 5 Nr. 5 AufenthG). In einem solchen Fall müsste das Gericht in einem anhängigen Klageverfahren das Verfahren gemäß § 75 Satz 3 VwGO bis zum Ablauf einer von ihm bestimmten Frist, die verlängert werden kann, aussetzen, wenn ein zureichender Grund dafür vorliegt, dass der beantragte Verwaltungsakt noch nicht erlassen ist. Übertragen auf den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für eine beabsichtigte Klage bedeutet dies, dass der Antrag nicht zu Gunsten der Antragsteller entscheidungsreif geworden ist, solange die nach § 75 Satz 3 VwGO zu bestimmende Frist noch nicht abgelaufen sein kann (OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Januar 2017 – OVG 3 M 122.16 – juris Rn. 5, 7).
Die besondere Belastung oder sogar Überlastung einer Behörde durch eine unvorhersehbare Vielzahl von Anträgen stellt einen zureichenden Grund im Sinne von § 75 Satz 3 VwGO dar, solange die Überlastung nicht von Dauer ist und somit ein strukturelles Organisationsdefizit vorliegt, dem die Behörde nicht durch Abhilfemaßnahmen entgegen wirkt (vgl. Brenner, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 75 Rn. 51; W.-R. Schenke, in: Kopp/Schenke, VwGO, 22. Auflage, § 75 Rn. 13; BVerfG, Beschluss vom 16. Januar 2017 – 1 BvR 2406/16 – juris Rn. 9 m.w.N.).
Das Vorbringen der Antragsteller, dies könne nicht gelten, wenn die in Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86/EG betreffend das Recht auf Familienzusammenführung genannte neunmonatige Frist überschritten werde, überzeugt nicht. Es trifft zwar zu, dass dort in Unterabs. 1 bestimmt ist, dass die zuständigen Behörden des Mitgliedstaats dem Antragsteller ihre Entscheidung unverzüglich, spätestens aber neun Monate nach Einreichung des Antrags schriftlich mitteilen. Der anschließende Unterabs. 2 sieht jedoch vor, dass es eine Fristverlängerung aufgrund der Schwierigkeit der Antragsprüfung geben kann. Dies zeigt bereits, dass die Frist in besonderen Fallkonstellationen nicht in der von den Antragstellern angenommenen Weise unabdingbar ist. Darüber hinaus hat bereits das Verwaltungsgericht darauf hingewiesen, dass sich gemäß Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 3 Satz 2 der Richtlinie 2003/86/EG die etwaigen Folgen nach dem nationalen Recht des betreffenden Mitgliedstaats richten, wenn bei Ablauf der Frist nach Unterabs. 1 noch keine Entscheidung ergangen ist, und daraus geschlossen, dass Art. 5 Abs. 4 der Richtlinie 2003/86/EG die Anwendung des § 75 VwGO nicht ausschließe, sondern vielmehr zulässt. Insoweit ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass es mangels einer einschlägigen Regelung der Union Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung der einzelnen Mitgliedstaaten ist, die Verfahrensmodalitäten für Klagen zu regeln, die den Schutz der dem Einzelnen aus dem Unionsrecht erwachsenden Rechte gewährleisten sollen, wobei die Mitgliedstaaten für den wirksamen Schutz dieser Rechte in jedem Einzelfall verantwortlich sind und insbesondere die Beachtung des in Art. 47 der Charta verankerten Rechts auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht gewährleisten müssen (EuGH, Urteil vom 8. November 2016 – C-243/15 – juris Rn. 65). Dies spricht dafür, Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 2003/86/EG als Maßstab heranzuziehen, um die nach § 75 Satz 3 VwGO zu bestimmende Frist zu begrenzen, was es jedoch nicht ausschließt, dass unter besonderen Umständen auch eine längere Frist in Betracht kommt (vgl. Art. 5 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 2003/86/EG). So verhält es sich auch hier.
Bei der Vergabe von Terminen zur Vorsprache bei ihrer Botschaft in Beirut steht die zukünftige Beklagte vor der Schwierigkeit, dass aus von ihr nur begrenzt beeinflussbaren Gründen die Zahl der Anträge auf Familiennachzug aus der Region um Syrien und Irak ungewöhnlich stark angestiegen ist, nachdem insbesondere 2015 eine hohe Zahl Schutzsuchender in das Bundesgebiet gelangt ist und zudem eine Entlastungsmöglichkeit entfallen ist, weil nach der Einführung der Visumpflicht für Syrer durch die Türkei vielen Syrern der Weg zu einer Auslandsvertretung der zukünftigen Beklagten in der Türkei versperrt ist. Der außergewöhnlich hohen Zahl an Antragstellern steht nur eine begrenzte Bearbeitungskapazität gegenüber, die insbesondere den hohen Sicherheitsanforderungen einer Botschaft genügen muss, die eine Bearbeitung nur an speziell ausgebauten Schaltern erlaubt (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 2. Januar 2017 – OVG 3 M 122.16 – juris Rn. 6). Die zukünftige Beklagte hat in ihrer Beschwerdeerwiderung die Kritik der Beschwerde entkräftet, die von ihr ergriffenen Maßnahmen hätten nicht dazu geführt, dass sich die Bearbeitungszeiten für die Erteilung von Visa durch ihre Botschaft nicht verkürzt, sondern von früher 4 bis 6 Monaten auf nunmehr 10 bis 12 Monaten verlängert hätten. Danach hat sie u.a. durch Baumaßnahmen die Zahl ihrer Schalter erhöht, Schicht- und Samstagsdienste eingeführt und in Zusammenarbeit mit der Internationalen Organisation für Migration neue Zugangsmöglichkeiten eröffnet. Die Antragsteller konnten ihre Anträge am 19. Juni 2017 abgeben und diese sind seither in der Bearbeitung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, § 127 Abs. 4 ZPO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es wegen der gesetzlich bestimmten Festgebühr nicht.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).