Gericht | LSG Berlin-Brandenburg 1. Senat | Entscheidungsdatum | 28.11.2014 | |
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Aktenzeichen | L 1 KR 138/13 | ECLI | ||
Dokumententyp | Urteil | Verfahrensgang | - | |
Normen | § 16 SGB 1, § 8 SGB 5, § 27 SGB 10 |
Eine Befreiung nach § 8 Abs. 1 SGB V ist nicht möglich, wenn die Versicherungspflicht nahtlos an eine bestehende andere anschließt.
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Die Revision wird zugelassen.
Der Kläger begehrt die Befreiung von der Krankenversicherungspflicht.
Er war zunächst bis Ende des Jahres 2009 bei der Beklagten als Angestellter krankenversichert. Am 19. Juni 2009 ging er die Lebenspartnerschaft mit Herrn M S ein, der bei der Postbeamtenkrankenkasse versichert war und ist.
Dieser erkundigte sich im Juli 2009 bei der Postbeamtenkrankenkasse, ob und unter welchen Bedingungen sein Mann mitversichert werden könne. Diese antwortete mit Schreiben vom 9. September 2009, es gäbe derzeit keine Möglichkeit, eingetragene Lebenspartner mitzuversichern. Nach § 16 der Satzung der Postbeamtenkrankenkasse sei eine Mitversicherung nur von Ehegattinnen und Ehegatten möglich.
Der Kläger bezieht seit 1. August 2009 eine Altersrente.
Die Beklagte führt ihn seit dem 1. Januar 2010 als Mitglied in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR).
Eine weitere Anfrage des Lebenspartners bei der Postbeamtenkrankenkasse von März 2011 beantwortete diese mit Schreiben vom 21. April 2011 erneut abschlägig.
Mit Schreiben vom 17. Oktober 2011 fragte der Kläger bei der Beklagten an, ob ein Austritt aus der Beklagten zum Zweck eines Wechsels in die Postbeamtenkrankenkasse für ihn ab sofort möglich sei und stellte auch bereits (unter dem Vorbehalt einer Aufnahme als Mitversicherter in die Krankenversicherung seines Lebenspartners bei der Postbeamtenkrankenkasse) formlos den Antrag für einen solchen Wechsel.
Die Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 11. November 2011 ab. Ein Befreiungsantrag hätte bis zum 30. März 2010 gestellt werden müssen.
Hiergegen erhob der Kläger am 6. Dezember 2011 Widerspruch. Er beantragte vorsorglich Wiedereinsetzung in die versäumte Antragsfrist und eine Befreiung von der Versicherungspflicht als Rentner. Die Antragsfrist sei nicht versäumt. Bereits das Schreiben seines Partners vom 24. Juli 2009 sei als Antrag auf Befreiung von der Versicherungspflicht als Rentner zu werten. Der Zugang bei der Postbeamtenkrankenkasse sei auch im Verhältnis zur Beklagten nach § 16 Abs. 2 Sozialgesetzbuch Erstes Buch (SGB I) wirksam.
Die seinerzeitige satzungsgemäße Ungleichbehandlung von Ehen und Lebenspartnerschaften bei der Postbeamtenkrankenkasse sei mit Europarecht und Artikel 3 Grundgesetz nicht zu vereinen, da es dem Kläger nicht möglich gewesen sei, innerhalb der Antragsfrist eine verbindliche Klärung der Frage zu erreichen, ob er bei der Postbeamtenkrankenkasse mitversichert sei. Es könne ihm nicht entgegengehalten werden, aufgrund der falschen Rechtsauskunft die Antragsfrist versäumt zu haben. Der Hinderungsgrund sei frühestens am 24. November 2011 entfallen (Verkündung des Gesetzes zur Übertragung ehebezogener Regelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspartnerschaften, BGBl. I, 2219 ff.). Der Wiedereinsetzungsantrag sei fristgemäß gestellt. Zudem liege ein Fall des § 27 Abs. 3 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) vor. Das Fehlen einer gesetzlichen Klarstellung zur Mitversicherung stelle sich für den Kläger als höhere Gewalt dar. Ihn treffe nicht das geringste Verschulden.
Die Beklagte wies den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 22. März 2012 zurück: Aufgrund § 5 Abs. 8 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch (SGB V) sei der Kläger bis zum Beginn der Rente am 1. Januar 2010 nicht in der KVdR versichert gewesen sei. Der Antrag auf Befreiung hätte gemäß § 8 Abs. 8 Satz 1 SGB V innerhalb von 3 Monaten nach Beginn der Versicherungspflicht, hier also bis 31. März 2010, gestellt werden müssen. Da die in § 8 Abs. 2 SGB V genannte Frist eine von Amts wegen zu beachtende Ausschlussfrist sei, käme eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 27 SGB X selbst dann nicht in Betracht, wenn die Fristversäumnis unverschuldet sei.
Hiergegen hat der Kläger am 19. April 2012 Klage beim Sozialgericht Berlin (SG) erhoben. Eine Befreiungsmöglichkeit nach § 8 Abs. 1 SGB V bestehe auch dann, wenn bereits zuvor Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung bestanden habe, soweit diese ende und am folgenden Tag die neue entstehe (Bezugnahme auf Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26. Juli 2012 – L 1 KR 572/11). Das Bundesverfassungsgericht habe mit den Beschlüssen vom 19. Juni 2012 (2 BvR 1397/09) und vom 18. Juli 2012 (1 BvL 16/11) (nochmals) klargestellt, dass die Gleichstellung von Ehegatten und Lebenspartnern bereits ab 1. August 2001 geboten gewesen sei.
Das SG hat die Klage mit Urteil vom 5. April 2013 abgewiesen. Eine Befreiung scheitere bereits an dem Umstand, dass der Kläger vor der KVdR bereits nach § 5 Abs. 1 Satz 1 SGB V als Angestellter gesetzlich krankenversicherungspflichtig gewesen sei. Es hat sich zur Begründung ergänzend auf das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 22. Juni 2011 (L 2 KR 80/10) gestützt.
Hiergegen richtet sich die Berufung des Klägers, zu deren Begründung er sein bisheriges Vorbringen wiederholt und vertieft.
Er führt ergänzend aus, die Auffassung des Saarländischen Landessozialgerichts sei unsubstantiiert und unbegründet.
Es sei z. B. bei der Befreiungsmöglichkeit nach § 8 Abs. 1 Nr. 6 SGB V davon auszugehen, dass diese unabhängig davon bestehe, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen der Antragsberechtigte vorher beschäftigt und versichert gewesen sei (Bezugnahme auf Gerlach in Hauck/Noftz, SGB V, § 8 Rdnr. 45). Entsprechendes gelte für Teilnehmer an Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben (Bezugnahme auf Gerlach, a. a. O., Rdnr. 52; Hampel in Schlegel/Voelzke juris PraxisKommentar, SGB V, 2. A. 2012, § 8 Rdnr. 77).
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 5. April 2013 und den Bescheid vom 11. November 2011 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 22. März 2012 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Kläger von der Versicherungspflicht der Rentner zu befreien bzw. hilfsweise, Wiedereinsetzung zu gewähren und ihn von der Versicherungspflicht als Rentner zu befreien.
Die Beklagte beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Sie verteidigt das angegriffene Urteil. Sämtliche Befreiungstatbestände setzten voraus, dass erstmals Versicherungspflicht eintrete, wo vorher eine solche nicht bestanden habe. Im Übrigen sei u. a. kein Beratungsfehler ihrerseits erkennbar.
Die Berufung hat keinen Erfolg. Das SG hat die Klage zu Recht abgewiesen.
Zutreffend hat das SG im angefochtenen Urteil ausgeführt, dass nach § 8 Abs. 1 SGB V nur derjenige Versicherte befreit werden kann, der versicherungspflichtig w i r d. Es darf unmittelbar vorher keine Versicherungspflicht bestanden haben (ebenso Peters, NZS 2012, 326, 328;Just in Becker/Kingreen, SGB V, 4. A. 2014 § 8 Rdnr. 2). § 8 SGB V will (nur) ermöglichen, dass ein bestehender privater Krankenversicherungsschutz aufrechterhalten werden kann, obwohl aufgrund einer der in Absatz 1 des § 8 SGB V aufgezählten Ereignisse an sich Versicherungspflicht eintritt (so zutreffend Kruse in LPG-SGB V 4. Auflage 2012, § 8 Rdnr. 1; ebenso Gerlach, a. a. O. § 8 Rdnr. 24).
Das Landessozialgericht für das Saarland hat in dem angeführten Urteil vom 22. Juni 2011 seine Auffassung nicht nur auf den Wortlaut des § 8 Abs. 1 Nr. 4 SGB V gestützt. Es hat ergänzend und zutreffend auch auf den historischen Gesetzgeber abgestellt. Mit Einführung des § 8 SGB V habe sich an der gesetzlichen Zielsetzung der früheren § 173a bis 173f Reichsversicherungsordnung (RVO) nichts geändert. Die bisherigen Regelungen der Befreiung von der Versicherungspflicht seien inhaltlich übernommen und zusammengefasst worden (Bezugnahme auf BT-Drucksache 11/2237 Seite 960).
Nach § 173a RVO konnte sich von der Versicherungspflicht nach § 165 Abs. 1 Nr. 3 RVO befreien lassen, wer bei einem Krankenversicherungsunternehmen versichert war und Leistungen erhielt, die der Art nach denjenigen der Krankenhilfe entsprachen. Zu den Krankenversicherungsunternehmen im Sinne dieser Vorschrift zählten nur private Versicherungsunternehmen (LSG Saarland, a.a.O. juris – Rdnr. 22 unter Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 10. Juli 1985 – 5 a RKn 24/83).
Für seine gegenteilige Auffassung kann sich der Kläger nicht auf das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 26. Juni 2012 (L 11 KR 572/11) berufen. Das LSG gibt nur den Wortlaut der Vorschrift wieder, beschäftigt sich ansonsten ausschließlich mit der Frage rechtzeitiger Antragstellung bzw. einem etwaigen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch aufgrund fehlender Beratung über die Befreiungsmöglichkeit. Auch aus den weiter zitierten Literaturauffassungen ergibt nichts anderes (unklar lediglich Gerlach a. a. O. Rdnr. 52). Hampel (a. a. O. Rdnr. 77) kommentiert lediglich die Voraussetzungen einer Befreiung nach § 8 Abs. 1 Nr. 3 SGB V.
In der Kommentierung zu § 8 Abs. 1 Nr. 6 SGB V verweist Gerlach (a. a. O. Rdnr. 45) auf die Übergangsvorschrift des Art. 57 des Gesetz zur Strukturreform im Gesundheitswesen (Gesundheits-Reformgesetz - GRG). Danach konnten die Personen, die durch die Beschäftigung als Arzt im Praktikum am 31. Dezember 1988 versicherungspflichtig waren, auf Antrag von der Versicherungspflicht befreit werden. Art. 57 GRG unterstreicht damit als Ausnahme-Übergangsvorschrift umgekehrt, dass im gesetzlichen Regelfall eine bereits bestehende Pflichtversicherung eine Befreiung ausschließt.
Die Klage hätte aber auch keinen Erfolg, wenn die bisherige Pflichtversicherung einer Befreiung nicht entgegenstünde. Der Antrag wurde zu spät gestellt.
Das Anfrageschreiben des Lebenspartners des Klägers vom 24. Juli 2009 ist bereits nach seinem Wortlaut kein Antrag auf Befreiung in Vertretung für den Kläger. Er bittet lediglich zu prüfen, ob und unter welchen Bedingungen der Kläger mitversichert werden könne und um die Übersendung notwendiger Unterlagen. Ein Antrag im Sinne von § 16 SGB I liegt bereits deshalb nicht vor.
Ob Wiedereinsetzung in die Versäumnis der Frist des § 8 Abs. 2 SGB V möglich wäre, braucht hier nicht entschieden zu werden. Selbst wenn § 27 SGB X einschlägig wäre, schiede die Anwendung der Norm hier aus:
Ein Wiedereinsetzungsantrag nach § 27 Abs. 3 SGB X ist nach einem Jahr seit dem Ende der versäumten Frist eine Wiedereinsetzung grundsätzlich nicht mehr möglich. Diese Jahresfrist ist hier spätestens am 31. März 2011 abgelaufen (drei Monate aufgrund § 8 Abs. 2 S. 1 SGB V und ein Jahr aufgrund § 27 Abs. 3 SGB X). Der Ausnahmefall (Handlungsnachholung vor Ablauf der Jahresfrist infolge höherer Gewalt unmöglich) ist nicht gegeben. Höhere Gewalt liegt nur vor, wenn die Fristversäumung auch bei größter, vernünftigerweise zumutbar zu erwartender, Sorgfalt nicht hätte abgewendet werden können (Mutschler in: Kassler Kommentar zum Sozialversicherungsrecht, 82. EL 2014, § 27 SGB X Rdnr. 18 mit Bezugnahme auf BSG, Urteil vom 11. Mai 2000, BSGE 86, 153, 161). Insoweit schließt schon das geringste Verschulden höhere Gewalt aus.
Hier ist nicht ersichtlich, weshalb der Antrag, der von vornherein nur für den Fall der Mitversicherung greifen sollte, nicht bereits rechtzeitig hätte gestellt werden können. Dass dies unzumutbar gewesen sein soll, erschließt sich dem Senat nicht. Ob die Befreiungsvoraussetzungen vorlägen, hätte im Verfahren geklärt werden können. Dass ein Antrag bei der Postbeamtenkrankenkasse (unter Hinweis auf Art. 3 Grundgesetz) nicht möglich gewesen wäre, ist nicht vorgetragen und ersichtlich.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG und entspricht dem Ergebnis in der Sache.
Die Revision war nach § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zuzulassen.